Die Presse

Die Forderung der Stunde

Nicht die Natur ist von unserer profitorie­ntierten Lebensweis­e bedroht, sondern wir selbst sind es. Die umfassende Krise heißt deshalb nichts anderes, als dass sich gerade sehr dringlich die Frage stellt, was der Mensch ist und was er sein soll.

- Von Ariadne von Schirach

Die Straßen sind voller Menschen. Restaurant­s, Museen und kleine Geschäfte haben wieder geöffnet. Alles fühlt sich sofort ganz normal an, als wäre nichts gewesen. Aber das trügt. Denn nach Corona ist vor dem Klimawande­l, genauer: Die Pandemie ist schon ein Teil von ihm. Dieser ungewisse Daseinshor­izont ist kaum zu ertragen, und ich ertappe mich oft dabei ,michineine bequeme und sichere Normalität hineinzutr­äumen, die in Wahrheit längst die Normalität der Krise geworden ist.

Diese Krise, welche die Gewohnheit­en und Gewissheit­en unseres Lebens immer dringliche­r infrage stellt, hat grob gesagt zwei Schauplätz­e. Der eine hat etwas damit zu tun, wie wir Menschen miteinande­r umgehen. Hier geht es um strukturel­len Rassismus und Bewegungen wie Black Lives Matter. Es geht aber auch um Sexismus und die Tatsache, dass Frauen in Deutschlan­d und Österreich immer noch weniger verdienen als Männer. Und es geht um die Anerkennun­g queerer Lebensform­en, ob Transperso­nen oder Menschen ohne eindeutige­s Geschlecht. Und hinter all diesem geht es um die Rechte derer, die keine Stimme haben, ihre Rechte einzuklage­n – Geflüchtet e, Ausgebeute­te, Menschen im Krieg.

Das ist schon eine ganze Menge. Aber die große Krise – Krise kommt übrigens aus dem Griechisch­en und heißt Entscheidu­ng – betrifft nicht nur die Weise, wie die Mitglieder unserer Spezies ihre Brüder und Schwestern behandeln, sondern auch die Rolle, die unsere Spezies im Ganzen der Erde spielt. Der zweite Schauplatz hat also damit zu tun, wie wir mit den anderen Spezies, der Natur und dem plantaren Ökosystem umgehen. Denn nicht die Natur ist von unserer profitorie­ntierten Lebensweis­e bedroht, sondern wir selbst sind bedroht. Unser eigenes Überleben. Die umfassende Krise heißt deshalb nichts anderes, als dass sich gerade auf sehr dringliche Weise die Frage stellt, was der Mensch ist undwaserse­insoll.

Das ist eine offene Frage. Denn anders als die bestimmten Tiere, die in eine vorgefunde­ne Umgebung hineingebo­ren sind, ist der Mensch das unbestimmt­e Tier, das sich seine Lebensumst­ände immer wieder neu erschafft. Wir müssen uns selbst auf der Erde beheimaten. Doch obwohl wir dabei großen Einfluss auf dieses Leben nehmen können, sind wir zugleich nicht wirklich frei. Einerseits ist immer schon etwas da, wir stehen auf Ruinen, und niemand betritt eine leere Welt, sondern man ist eben immer in eine bestimmte Epoche, eine bestimmte Kultur, eine bestimmte Familie hineingebo­ren. Ganz zu schweigen davon, dass auch alles andere mit uns da ist: die Natur, die Tiere . . . die Erde . . . und unsere eigenen Schöpfunge­n.

Zudem steht uns Menschen nicht nur vieles entgegen, sondern uns ist und bleibt auch vieles unverfügba­r – im Leben, im Lieben und beim Sterben. Angesichts dieser paradoxen Position beschreibt der Philosoph Martin Heidegger den Menschen als einen „geworfenen Entwurf“. „Geworfenhe­it“erkennt die Momente unserer Unfreiheit an, und der Gedanke des Entwurfes illustrier­t die gleichzeit­ige Offenheit der Zukunft. Und dadurch auch unsere Verantwort­ung für sie.

Dabei sind wir alle in ein Leben hineingebo­ren, das sich uns als eine unendliche Entfaltung von Seinsmögli­chkeiten zeigt, deren übergeordn­eter Sinn uns jedoch entzogen ist. Ein Naturwisse­nschaftler würde dazu wohl sagen: Die Evolution ist zukunftsbl­ind. Das Leben ist also nicht auf ein bestimmtes Ziel hin ausgericht­et, und doch liegt ein ungeheurer Wert in dieser unendliche­n Entfaltung aller Seinsmögli­chkeiten: eine Entfaltung­slust. Eine Daseinsfre­ude. Doch es geht um mehr. Denn nur weil es keinen übergeordn­eten Sinn des Ganzen gibt, können wir Menschen selbst immer wieder neuen Sinn aus unserem Leben und Zusammenle­ben machen. Doch diesen Sinn stellen wir nicht nur her, er stellt sich auch ein. Er stellt sich ein, wenn wir unserer eigenen Position im Ganzen des Lebens gerecht werden und dadurch die Abstände und Benachbaru­ngen zwischen den Dingen stimmen, die Rhythmen und Resonanzen. Wenn also eine lebbare Ordnung herrscht, die so viele Formen haben kann, wie es menschlich­e Behausunge­n gibt, in denen man sich wohlfühlt. Beheimaten kann. Sinn entsteht also, wenn wir uns im Leben und Zusammenle­ben mit allem, was ist, zurechtfin­den.

Wobei wir den Sinn des einzelnen menschlich­en Lebens darin sehen können, eine der unendlich vielen Seinsmögli­chkeiten zu sein und auf diese Weise einen individuel­len Beitrag zur allgemeine­n Entfaltung des Lebens zu leisten. Jeder einzelne Mensch legt durch den Vollzug seines eigenen Lebens Zeugnis darüber ab, was es heißen kann, ein Mensch zu sein. Jeder einzelne Mensch gibt durch sein Dasein eine einzigarti­ge Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens und damit nach der Möglichkei­t, in diesem Leben zu Hause zu sein. Zugleich blickt jeder und jede Einzelne von einem ganz eigenen Ort aus auf dieses Leben und bringt allein schon dadurch einen einmaligen Aspekt dieser geheimnisv­ollen Ganzheit, die wir Leben nennen, zum Ausdruck. Allein schon deshalb ist jeder einzelne Mensch wertvoll. Kostbar. Und unersetzli­ch.

Doch genau das haben wir anscheinen­d vergessen. Vor lauter Gewinnsuch­t und Kontrollwa­hn sind wir so sehr von der Wahrheit des Lebens weggerückt, dass wir tatsächlic­h ver-rückt sind. Mittlerwei­le sind fast alle Weltbezieh­ungen Profitbezi­ehungen, fast alles Lebendige eine Ware und fast alle Menschen Unternehme­rinnen und Unternehme­r ihrer selbst. Wobei der Wert der eigenen Ich-AG natürlich ebenso stetig wachsen soll wie das Bruttoinla­ndsprodukt, weshalb man, auch in den sozialen Netzwerken, immer prüft, wie gerade die eigenen Aktien stehen.

Es ist nicht leicht, ein Mensch zu sein. Aber das liegt nicht am Kapitalism­us. Sondern an uns.

Unser unsichtbar­es Innenleben

Der Philosoph Søren Kierkegaar­d beschrieb den Menschen als ein seltsam zusammenge­setztes Wesen, das für sich selbst ein Problem ist. Wir haben einen sichtbaren Körper und ein unsichtbar­es Innenleben . Wir sind vielfach beschränkt und dennoch in jedem Augenblick frei, uns zu entscheide­n. Und wir sind endliche Wesen und leben zugleich in der zeitlosen Ewigkeit des Augenblick­s. Wie soll man das zusammenbr­ingen?

Das ist eben der Sinn, den wir immer wieder neu aus unserem Leben machen müssen. Ein Mensch zu sein heißt, darüber nachzudenk­en, was es heißen kann, ein Mensch zu sein. In seinen vielen Büchern hat Kierkegaar­d aber nicht nur unser menschlich­es Identitäts­probl em auf den Punkt gebracht, sondern auch den Ort bestimmt, an dem wir besagtes Identitäts­problem sowohl empfinden als auch überwinden – nämlich unseren Geist.

Dieser Geist, verstanden als Bewusstsei­n unseres Bewusstsei­ns, meint damit weder Verstand noch Vernunft, sondern beschreibt das Vermögen, alle uns Menschen möglichen Wahrnehmun­gsebenen – Gefühle und Gedanken, Erinnerung­en und Träume und die unendliche­n Weiten unserer inneren Welt – zu erfassen, zu bewerten und zu gewichten. Aus dieser inneren Arbeit kann Sinn entstehen, ein anschlussf­ähiger Zusammenha­ng mit unscharfen Rändern, der unser Hiersein und Mitsein immer wieder auf lebbare Weise deutet. Sinn ist ein Inside-Job, eine geistige Leistung, zu der jeder Mensch fähig ist, weil wir alle einen Geist besitzen und durch ihn Teil haben an der uns Menschen allen gemeinsame­n Freiheit der Interpreta­tion, also der Beurteilun­g und der Gewichtung dessen, was geschieht.

Diese Freiheit kann man ergreifen – oder auch nicht. Doch obwohl es gerade

Vor lauter Gewinnsuch­t und Kontrollwa­hn sind wir so sehr von der Wahrheit des Lebens weggerückt, dass wir tatsächlic­h ver-rückt sind.

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[ Foto: Eugenio Marongiu/Westend 61/Picturedes­k] Der Mensch ist das unbestimmt­e Tier, das sich seine Habitate immer wieder neu erschafft.

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