Ariadne von Schirach: Die Forderung der Stunde
Heilung ist das Finden eines neuen Sinns. Wir brauchen keine neue Welt, sondern ein neues Bewusstsein dessen, was ist. Und was mit uns ist.
unendlich leicht ist, sich von sich selbst und seiner eigenen Antwort abzulenken, ruft uns die große Krise mit ihren komplexen Herausforderungen immer unabweisbarer auf, über alles bewusst und gründlich nachzudenken. Wie wollen wir leben? Wie sollten wir leben? Und wie können wir gut mit den anderen Spezies, der Natur und dem Planeten zusammenleben?
Heilung ist das Finden eines neuen Sinns. Wir brauchen keine neue Welt, sondern ein neues Bewusstsein dessen, was ist. Und was mit uns ist. Viktor Frankl, der Begründer der Existenzanalyse, schrieb dazu: „Es kommt nicht darauf an, was wir vom Leben erwarten, sondern allein darauf, was das Leben von uns erwartet.“Das Leben stellt an alle von uns in jedem Augenblick Fragen, die wir immer wieder neu durch unser Dasein lösen müssen. Diese Fragen nennt Frankl „die Forderung der Stunde“. Diese Forderung ist niemals abstrakt, sondern ganz konkret, sie betrifft mich dort, wo ich stehe und von wo aus ich auf mein Leben antworten muss. Etwas fällt runter, man hebt es auf. Jemand ist traurig, man tröstet ihn. Eine Nachricht erreicht mich, ich schreibe zurück.
In den meisten Situationen gibt es Handlungsspielräume. Aber wir merken schnell, wenn unsere Antwort nicht sinnvoll ist. Wir haben einen Sinn für den Sinn, der sich nicht in eindeutigen Handlungsanweisungen zeigt, sondern Unbehagen erzeugt, wenn wir der Forderung der Stunde allzu sehr zuwiderhandeln. Das können wir uns vorstellen wie mit unserem Sinn für Gerechtigkeit, der eigentlich ein Sinn für Ungerechtigkeit ist. Denn wir wissen gar nicht so genau, was gerecht ist, aber wenn etwas ungerecht ist, spüren wir das sofort.
Ich denke, dass sich auch unser Sinn für den Sinn ex negativo zeigt, also durch existenzielle Dissonanzen aktiviert wird, die uns zum Handeln auffordern. Bekannt ist dieses Sinn-Organ, wie Frankl es nennt, auch unter dem etwas altmodisch klingenden Namen Gewissen. Dazu schreibt der Philosoph GWF Hegel in der Phänomenologie des Geistes: „Das Gewissen ist einfaches pflichtgemäßes Handeln, das nicht diese oder jene Pflicht erfüllt, sondern das konkrete Rechte weiß und tut.“In diesem Sinn wollen wir im Folgenden das Gewissen verstehen: als geistiges Vermögen, das uns jenseits aller moralischer oder gar religiöser Implikationen schlicht befähigt, in allen Situationen uns selbst und dem Leben hinreichend gerecht werden und dadurch ein Gefühl von Sinn zu erfahren.
Unser Sinn für den Sinn ermöglicht uns dabei eine doppelte Beziehungserfahrung mit dem Leben. Zum einen geht es um ein Verhältnis zu unserer eigenen Lebendigkeit, die wir achten, aber auch missachten können. Und zum anderen geht es um unser Verhältnis zum Lebendigen, dessen Verletzung Gewissensbisse auslösen kann – aber nicht muss. An beiden Beziehungen kann man zweifeln, wie die Philosophie seit Platon vielfach daran gezweifelt hat, dass da draußen überhaupt irgendetwas ist und falls ja, ob wir es auch berühren können. Und ob es uns berührt. Und beide Beziehungen können in Gefahr sein, wie wir es durch die große Krise erleben. Doch wir können immer wieder zu beiden Verbindungen zurückkehren – wobei genau darin die Möglichkeit liegt, unser Menschsein anders zu denken und anders zu leben.
An die Verbindung, die wir alle mit uns selbst haben, möchte ich an dieser Stelle nur kurz erinnern. Ein Gewissen kann, muss man aber nicht haben. Genauer gesagt, muss jeder und jede von uns sich immer wieder darum bemühen, Tag für Tag müssen wir uns bemühen, bis zum Tod. Denn die wichtigste Aufgabe des Menschen ist es, sich um seine Seele zu kümmern. Aber auch um alles, was mit ihm ist.
Ein unabweisbares Gewahrsein der Komplizenschaft des Seins durchwebt nicht erst seit Alexander von Humboldts Erkenntnis einer „vernetzten Natur“einen großen Bereich der Naturwissenschaften – ohne dass das großen Einfluss auf unsere Lebensweise gehabt hätte. Die Bäume hingegen wissen es, auch die Tiere, die Dichterinnen und der silberhelle Mond. Nur wir Übrigen stellen uns manchmal in die Ecke und tun so, als würde uns alles nichts angehen. Aber beobachten heißt verändern, und wahrnehmen heißt teilhaben, das wissen wir nicht erst seit der Entdeckung von Heisenbergs Unschärferelation. Doch es geht um mehr. Bin ich wirklich nur ein Mensch? Bin ich nicht auch ein Baum, eine Blume, ein Hügel? Ein Fisch, ein alter Fernseher, ein wenig Mikroplastik? Gewiss ist, dass wir alle aus
Atomen bestehen, die vor der Geburt unseres Körpers bereits für etwas anderes verwendet wurden. Wir sind alle aus Sternenstaub gemacht, aber auch aus Steinen und Blättern und den Schalen von Krustentieren. Und aus Müll. Aus Elektroschrott. Aus alten Stoffen und Waffen und Hölzern. Dazu schrieb der Dichter Rainer Maria Rilke: „Durch alle Wesen reicht der eine Raum: / Weltinnenraum / Die Vögel fliegen still / durch uns hindurch. Oh, der ich wachsen will, / Ich sehe hinaus, und in mir wächst der Baum.“
Alles ist diskret lebendig
Die große Krise entspringt einem Vergessen, Verdrängen, Missachten dieser existenziellen Verbundenheit, aber es ist immer möglich, zu ihr zurückzukehren. Denn es ist nicht nur alles mit allem verbunden, sondern alles ist diskret lebendig. Und obwohl es bezüglich der terrestrischen Akteure und ihrer Perspektiven noch Anerkennungskämpfe gibt und Grenzen gezogen und verworfen werden – Tiere ja, Computer nein, Bücher vielleicht, toxischer Müll auf keinen Fall, so sehe ich doch eine langsam und diskontinuierliche Bewegung hin zu einer animistischen Internationale, bei der alles und jedes ein Sein in der Zeit besitzt: Serverfarmen und Schreibtische, Schnecken und Schaben, Tiefebenen und Tsunamis.
Der kleine gemeinsame Nenner einer möglichen Beziehung wäre eine Art atomarer Aktivierung, ein gemeinsames Aufleuchten im Quantenfeld. Alles, was gerade leuchtet, ist in der Welt, ja ist Welt. Zu sein heißt, mit all diesen Dingen in Quantengemeinschaft zu sein, wobei sich in jedem lokalen und jedem globalen Mitsein Sinn ereignen kann – aber nicht muss. Denn das liegt uns. Nur wir Menschen brauchen diesen Sinn. Aber jedes Mal, wenn wir ihn finden, schenken wir ihn zugleich der Welt.
Unterrichtet Philosophie und chinesisches Denken an verschiedenen Hochschulen. Freie Journalistin und Kritikerin. Zuletzt im Tropen Verlag erschienen: „Glücksversuche. Von der Kunst, mit seiner Seele zu sprechen.“Ihr Text ist ein Vortrag im Rahmen der Globart Academy mit dem Thema „Leben.Macht.Sinn.“. Noch bis heute, 4. September, im Stift Melk. (Foto: Rahel Taeubert)