Zwiebelhaufen auf C´evapˇci´ci
Expedition Europa: ein Spätsommernachmittag in Srebrenica, wo heute zu fast gleichen Teilen Bosniaken und Serben leben.
Am Samstag, an einem ungewöhnlich kalten Spätsommernachmittag, spazierte ich aus aktuellem Anlass durch Srebrenica. Ende Juli, eine Woche vor dem Ende seiner zwölfjährigen Amtszeit, hatte der Hohe Bevollmächtigte der UNO in Bosnien, Valentin Inzko, ein Gesetz erlassen, das die Leugnung eines Genozids in Srebrenica mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft.
Inzko, auch Anführer der Kärntner Slowenen, berief sich dabei auf die „einstimmig von den EU-Mitgliedsstaaten verabschiedete Council Framework Decision 2008/913/JHA vom 28. November 2008“. Auf die Frage, ob er Bosnien nicht einen Bärendienst geleistet habe, da sich nationalistische Bosnien-Politiker nun gegen das Genozidgesetz profilieren, schrieb mir Diplomat Inzko: „Das Gesetz wurde mehr als zehn Jahre lang wiederholt als Draft im BHParlament vorgelegt, aber niemals angenommen. In der Zwischenzeit hat die Glorifizierung der Kriegsverbrecher zugenommen. Schließlich wurde Ratko Mladic´ am 8. Juni 2021 rechtskräftig verurteilt. Die Zeit war reif für Änderungen des Strafgesetzbuches. Die Reaktionen waren vorauszusehen, aber ich handelte strikt nach meinem Gewissen.“
Ich hielt zunächst im Vorort Potocˇari. Der Gedenkpark aus weißen Grabstelen hatte sich seit meinem ersten Besuch weiter professionalisiert. Die Einträge im Gästebuch reichten bis Juni zurück, weder Inzkos Akt noch den Begriff Genozid fand ich erwähnt. Ein Kopftuchverleih, einige beteten auf den Teppichen unter dem Freidach am Eingang. Der Parkplatz war voll, Balkanmuslimische Familien kamen und gingen.
Nach Srebrenica fuhren die alle nicht rein. Der Stadtkern liegt in einem engen Talkessel.
Ein Hangweg zur orthodoxen Kirche rauf endete im Dickicht, eine Stiege von der Kirche runter in ungepflückten Brombeeren. Ein Zettel an einem Laternenpfahl verkündete „wegen der Klima-Situation“im August Einschränkungen der nächtlichen Wasserversorgung. Die Zeitungen behandelten den Besuch Erdog˘ans in Sarajewo, er hatte Jasmina aus der Staatsgründer-Dynastie Izetbegovic´ am Vortag den Trauzeugen gemacht. Das Städtchen mit dem verfluchten Namen wird heute zu fast gleichen Teilen von Bosniaken und Serben bewohnt, der Bürgermeister ist ein auf die „Haager Farce“schimpfender Serbe.
Locals wollte ich nicht befragen, aber klar, da war in einem leeren Restaurant mit Zwiebelhaufen auf den C´ evapcˇic´i und Zwiebelhaufen auf den Paradeisern ein zahnloser Koch-Kellner. Er pries die europaweite Verbreitung des serbischen Mineralwassers
Vodavoda und behauptete mit beidseitiger Übertreibung: „Hier haben 23.000 gelebt, jetzt sind’s 800.“Er zeigte zur Decke, „das ist Politik“.
Mein Eindruck beim Spazierengehen war, dass sich Srebrenica vor internationalen Hilfsinitiativen kaum rühren konnte. Das Gedenkprogramm zum 26. Jahrestag hatte über hundert Veranstaltungen umfasst. Die OSZE nutzte zwei große Neubauten, einen mit einem „Zentrum für Information und Bereitstellung von Rechtshilfe“. In Relation zur Einwohnerzahl nahm sich das affichierte Geistes- und Kulturleben geradezu monströs aus. Während meines Spaziergangs fand mindestens ein Kulturfestival statt. Ich merkte nichts davon.
Ein paar Locals, zumindest Polizisten der Republika Srpska, saßen in den Cafe´s herum. Im Venera wurde das „Red Bull Cliff Diving“von der Mostarer Brücke übertragen, in der Musik-Bar 42 standen die Burschen Darts schießend, und die Mädels saßen, eine mit versehrter violetter Mundpartie, eine andere mit rosa Kunststoffblümchenkranz im Haar.
Länger als die Menschen schaute ich aber die Häuser von Srebrencia an. Bosnienfahrer kennen die nie bezogenen Ziegelrohbauten, deren Öffnungen mit Ziegeln, Brettern, Strohwürfeln, Lagermaterial zugestopft sind; man kennt bewohnte Häuser mit ihren aus Prinzip oder Armut nie verputzten Einschlaglöchern; Ruinen, verkohlt oder an die Natur zurückgefallen. An Srebrenica ist einigermaßen besonders, wie die Post-Conflict-Baustile ineinanderfallen: Durch die nackten Etagen eines Zinshauses pfeift der Wind, mittendrin hocken aber heimelig isolierte Wohnkobel. Man sollte im Winter wiederkommen, wenn es aus 800 Ofenrohren raucht.