Fall eines Einzelgängers
Erstmals auf Deutsch: die Urfassung von Dostojewskis Roman „Der Doppelgänger“.
Manche mögen Dostojewski nicht. Mehr Theater als Romane, befand Vladimir Nabokov, seien dessen Werke. Tatsächlich handelt es sich bei diesem frühen Roman um die Studie einer Psychose, die einfühlsame Darstellung eines seelischen Innenraums vor dem Hintergrund einer bis ins Karikaturhafte standesbewussten Gesellschaft. Der Protagonist, Herr Goljadkin, gehört dieser Gesellschaft als Beamter an; lesend erleben wir ihn jedoch von Anfang an als Ausgestoßenen. Wir Heutigen würden Goljadkin zweifellos als Mobbing-Opfer beschreiben; die Konsequenz aus erlebter Intrige, der tief empfundene Wunsch, „ohne Maske“zu leben, entfernt Goljadkin immer weiter von den Ballsälen, in denen die „gute Gesellschaft“sich dem neuen Modetanz hingibt – der Polka.
Die zweite, gekürzte Version des „Doppelgängers“ist nach Dostojewskis Verbannungsjahren entstanden und weit verbreitet. Während Werke wie „Verbrechen und Strafe“oder „Der Idiot“Zeugnis ablegen von Reifungsprozessen, die er durchschritten hat, scheint die gekürzte Fassung des „Doppelgängers“an Qualität eingebüßt zu haben. Dass dies einem auf Deutsch lesenden Publikum jetzt vor Augen geführt wird, ist Alexander Nitzberg und dem Berliner Verlag Galiani zu verdanken, wo die Urfassung erstmals auf Deutsch erscheint.
Im Ton Gogols
Der Lesegewinn liegt in der Rekonstruktion des Grundtons. Da sind die barock anmutenden Vorsätze zu den Kapiteln, die falsche Erwartungen an den Verlauf der Geschichte wecken, aber die Innensicht des Helden unterstreichen; da sind byzantinische Briefe des Vorgesetzten, die in ihren Windungen die Selbstzufriedenheit der Beamtenschaft regelrecht der Obszönität überführen. Deutlich erkennt man den Ton Gogols.
Wie auch viele von Gogols grotesktragikomischen Werken ist „Der Doppelgänger“ein sprachgetriebener Text. Der sich entfaltende Wahnsinn des Protagonisten bildet sich in seinen stammelnden, um sich selbst kreisenden Selbstgesprächen ab. Auch kann Goljadkin sich nicht festlegen, wiegelt ständig ab und ist zu keinem Widerstand gegen seine übergriffige Umgebung fähig. Aus diesen kreisenden, sprachlichen Doppelungen schält sich schließlich jenes Element, das zu Goljadkins endgültigem Niedergang führen wird: sein Doppelgänger. Er sieht aus und heißt wie Goljadkin, hat aber, im Gegensatz zum „echten“, tatsächlich Erfolg in der „besseren“Gesellschaft und befeuert das Unglück des Protagonisten.
Ob es diesen Doppelgänger im Rahmen der Erzählung „wirklich gibt“, ist zweitrangig. Ersten Rang hat die sprachliche Ausgestaltung. Nitzberg ist ein zuverlässiger Übersetzer, der in einem kundigen Anhang dieses sprachlich fokussierte Vorgehen Dostojewskis in Kontext setzt. Die Lächerlichkeit der Beamtenwelt überträgt sich durch lustvolle Formulierungen von „Lulatsch“bis „Fisimatenten“und das Spiel mit Alliterationen. Da und dort legt Nitzberg den Worten eine Rüsche um, die sie im Original nicht haben, wenn aus „Gefühlen“etwa „echte Gefühle“werden oder ein „ersprießlich“aus einem simplen „gut“.
Gut: So hat Herr Nitzberg es jedenfalls gemacht im Dienst der Groteske. Nabokov hielt den „Doppelgänger“für das gelungenste, weil am meisten auf Sprache konzentrierte Werk Dostojewskis.