Der Amtsrat auf Türkisch?
„Eine Seite, an einem sehr guten Tag vielleicht zwei, aber dieses Wortspiel und diese Anspielungen und dieses Wienerische oder die Verballhornungen von diesem Rittmeister, das ist fast unmöglich.“Über Probleme und Vergnügungen beim Übersetzen von Heimito
Am schwierigsten war es, Äquivalenzen für die Amtsbezeichnungen der im Roman erwähnten (hohen) Beamten (Amtsrat, Präsidialist, Sektionsrat, Post-Oberoffizialin und so weiter) zu finden. Eine derart ausdifferenzierte Hierarchie hat es in den Niederlanden nie gegeben. Es gab und gibt nur Beamte 1., 2. oder 3. Klasse, aber diese führen keine speziellen Titel.“
Das sagte die 2014 verstorbene niederländische Übersetzerin Nelleke van Maaren in einem Vortrag, den sie „Probleme und Vergnügungen beim Übersetzen der ,Strudlhofstiege‘“nannte. Und sie war und ist nicht die Einzige, für die die Übertragung dieses 900 Seiten starken Romans (1951 erschienen) in ihre Muttersprache zu einer Herausforderung wurde. In zehn Sprachen ist das bekannteste Werk des österreichischen Romanciers Heimito von Doderer (1896 bis 1966) übersetzt worden. In den vergangenen Jahren haben sich vier weitere Übersetzer darangemacht, „Die Strudlhofstiege“in ihre jeweilige Muttersprache zu übertragen. Und zwar ins Englische, Tschechische, Französische und Türkische. Ich habe alle vier besucht und mit ihnen über ihre Arbeit gesprochen. Um es vorwegzunehmen: Als ich bei ihnen war – in Wien, Lyon, Prag und Ankara –, sah es so aus, als ob es nur eine Frage der Zeit wäre, bis ein Buch nach dem andern erscheinen würde: „Strudlhof Steps“, „Strudlhofske´ schody“, „L’Escalier du Strudlhof“und . . . ja, wie sollte der Roman auf Türkisch heißen?
Etem Levent Bakac¸, der türkische Übersetzer, hat inzwischen das Handtuch geworfen. Lag es an Problemen mit der Übersetzung? Wohl meinte er seinerzeit: „So einen schwierigen Autor wie Doderer habe ich noch nie übersetzt.“Doch per E-Mail versicherte er mir: „Mit der Sprache von Doderer komme ich eigentlich gut zurecht. Ich mag seine Ausdrucksweise und versuche seinen Stil ins Türkische zu übertragen. Doderer ist eigentlich nur mit James Joyce, Marcel Proust und Alfred Döblin zu vergleichen.“Anfang 2019 hatte er bereits 500 Seiten übersetzt. Doch dann kam eine Reihe familiärer und gesundheitlicher Probleme auf ihn zu. Er konnte nicht weitermachen.
Pierre Deshusses, der in Lyon lebt und in Frankreich zu den gefragtesten Übersetzern deutscher Literatur gehört, hat die Arbeit an der „Strudlhofstiege“ebenfalls abgebrochen. In seinem Fall gab es Schwierigkeiten mit dem Auftraggeber, einem belgischen Kleinverlag, der nicht mehr zahlen konnte.
„Fertig! 243.148 Wörter“
„Ich habe Stellen gefunden, die absolut unmöglich sind. Und man muss scheitern. Also im Großen und Ganzen geht es gut. Aber langsam. Ich stelle mir immer vor, heute schaffe ich drei Seiten, doch das geht nie. Eine Seite vielleicht, an einem sehr guten Tag vielleicht zwei, aber dieses Wortspiel und diese Anspielungen und dieses Wienerische oder die Verballhornungen von diesem Rittmeister, das ist fast unmöglich.“
Das sagte mir der amerikanische Übersetzer und Germanist Vincent Kling Ende 2017. Damals war er bei Seite 803 des deutschen Originals. Ein halbes Jahr später bekam ich eine E-Mail: „Bin bei Seite 865.“Und schließlich, Ende Sommer 2018: „Fertig! 243.148 Wörter.“Doch sind inzwischen drei Jahre vergangen, und „The Strudlhof Steps“sind noch nicht herausgekommen. Mehrmals schon hat der Verlag, New York Review Books (NYRB) in New York, das Erscheinen verschoben. Zwar gibt es schon Rezensionsexemplare, doch wird immer noch lektoriert oder – sagen wir – am Text herumgedoktert.
Bisher hat Doderer im englischen Sprachraum eine eher unglückliche Figur gemacht. Das hat nur wenig mit ihm selbst zu tun. Es war vielmehr eine Fehlentscheidung der Verlage Biederstein und Alfred A. Knopf, justament mit dem Riesenroman „Die Dämonen“zu beginnen. Mit „The Demons“konnte das Lesepublikum in Großbritannien und den USA nicht viel anfangen, auch die Kritik nicht. Zu fremdartig waren Sprache und Ton des österreichischen Schriftstellers, von dem man kaum etwas gehört hatte. Außer vielleicht, dass er mit den Nazis geliebäugelt hatte.
Es wurden zwar mit der Zeit die meisten Romane und Erzählungen Doderers ins Englische übertragen, doch zum Teil in Kleinverlagen, in Kleinauflagen. Was der Doderer-Experte Wendelin Schmidt-Dengler seinerzeit ironisch, aber nicht unzutreffend als „Begräbnis Erster Klasse“bezeichnete. Auch „Die Strudlhofstiege“sollte in einem solchen Verlag herauskommen (Eridanos Press, wo bereits die „Waterfalls of Slunj“erschienen waren). Als Kling, der mit der Übersetzung ins Englische beauftragt worden war, diese zur Hälfte fertiggestellt hatte, ging der Verlag pleite. Viele Jahre mussten vergehen, bis sich wieder ein amerikanischer Verlag für das Vorhaben interessierte: eben jener New York Review Books mit seinem visionären Leiter Edwin Frank.
Das dürfte nun der richtige Verlag zum richtigen Zeitpunkt sein. NYRB ist bekannt für seine Ausgaben klassischer mitteleuropäischer Literatur. Hier sind schon Stefan
Zweig, Arthur Schnitzler, Joseph Roth erschienen, aber auch tschechische oder ungarische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. In der amerikanischen Literatur war der Verlag für die Wiederentdeckung von John Williams maßgebend („Stoner“). Außerdem gibt er eine viel gelesene Wochenzeitschrift heraus, die „New York Review of Books“. Der Relaunch des in den USA bisher niemals so recht bekannt gewordenen Heimito von Doderer könnte diesmal klappen. Am 23. November soll es so weit sein.
Ondrˇej Sekal, der tschechische Übersetzer, wurde im Sommer 2018 mit seiner Übersetzung fertig – genau drei Tage nach der englischen. Doch ist das „Wettrennen“noch nicht zu Ende: Auch die „Strudlhofske´ schody“ist noch nicht erschienen. Der Verlag, Academia in Prag, hat das Erscheinen bereits mehrmals verschoben. Es hat natürlich mit der Corona-Krise zu tun, die Tschechien etwas mehr gebeutelt hat als manch andere Länder – das macht sich auf dem Buchmarkt bemerkbar.
„Strudlhofske´ schody“hieß bereits die slowakische Version, die 1990 in Bratislava erschien. Wenn Sekal etwas im Original nicht verstand, sah er zunächst nach, wie es die slowakische Übersetzerin aufgefasst hatte. Die beiden Sprachen sind einander ähnlich; eine eigene Übersetzung ins Tschechische wurde eigentlich erst durch die Trennung der beiden Staaten vor 25 Jahren notwendig. „Die jungen Tschechen lesen und verstehen kein Slowakisch mehr“, sagte Sekal. Was das Vokabular betrifft, ging Sekal manchmal andere Wege als die slowakische Übersetzerin. „Der kleine E.P. schaut aus dem Fenster und denkt an den Wienerwald. Sie übersetzt ,Vidensky´ les‘, aber ich lasse ,Wienerwald‘.“
Sekal war der einzige der vier Übersetzer, mit dem ich über Doderers seinerzeitige Anbiederung an den Nationalsozialismus sprach. Was werden die tschechischen Leser sagen, wenn sie erfahren, dass Doderer bei der NSDAP war? „Das möchte ich auch wissen“, meinte Sekal. „Ich muss sagen, dass mir die Verlagspolitik von Academia“– für die Sekal bereits Joseph Roth übersetzt hat und wo nun „Die Strudlhofstiege“erscheinen soll – „in diesem Sinne ziemlich sympathisch ist, dass sie nämlich ein eigenes Gesicht haben. Bei ihnen ist ja zum Beispiel auch ,Der Untergang des Abendlandes‘ von Oswald Spengler erschienen. Der Verlagschef, Jiˇr´ı Padeveˇt, ist ein ziemlich bekannter Autor von Büchern über das Protektorat, auch über die Grausamkeiten am Ende des Zweiten Weltkriegs, die von Deutschen als auch Tschechen begangen wurden, was bei uns immer noch ein bisschen tabu ist. Also, ich glaube, dass Doderer zum Profil des Verlags irgendwie passt.“
Nicht so wichtig nach Prager Frühling
„Ich fühle, dass bei uns ein paar Sachen fehlen in der Literatur. Jeder bei uns kennt Robert Musil und Hermann Broch, das wurde sehr gut übersetzt. Doderer erschien erst am Ende der 1960er-Jahre“(„Die Merowinger“und „Die Wasserfälle von Slunj“), „und da hatte man nicht genug Zeit, alles zu registrieren. Man versuchte damals, die Bücher der verdammten, der verbotenen Schriftsteller zu bekommen. Jemand wie Doderer war nicht so wichtig in der damaligen Normalisationszeit“, also nach dem Prager Frühling. „Ich fühle, dass es wirklich ein Auftrag, eine Sendung ist, Doderer endlich beim tschechischen Publikum bekannter zu machen.“
Kann das funktionieren? Vielleicht, denn immerhin stammen Tschechen und Österreicher aus demselben Kulturkreis. Doch wie ist es in Großbritannien oder gar in den USA? Kann Doderer dort einen Eindruck machen? Etwa so wie in den vergangenen Jahren Stefan Zweig, der durch den Film „The Grand Budapest Hotel“(2014) bekannt wurde? Der aus Texas stammende Filmregisseur Wes Anderson ließ sich nicht nur von der Atmosphäre Mitteleuropas, sondern speziell durch Zweigs Autobiografie „Die Welt von gestern“inspirieren. Karl Kraus fand in den vergangenen Jahren einen Fan in Jonathan Franzen, einem der bekanntesten lebenden US-amerikanischen Schriftsteller. Aber wer wird sich in England und den USA für Heimito von Doderer einsetzen? Das ist wahrscheinlich die entscheidende Frage.
Der österreichische Dokumentarfilmer Herbert Krill hat zusammen mit Imogena Doderer, einer Großnichte des Schriftstellers, zu dessen 50. Todestag für den ORF den Film „Heimito und die Doderers“gedreht. Zu sehen am 6. September in ORF 2, anlässlich Doderers 125. Geburtstags.