Schweigen ist eine Sprache
Dilek Güngör schildert in ihrem Roman eine schwierige Vater-Tochter-Beziehung.
Ipek besucht ihren Vater. Zum ersten Mal zu zweit, sind die beiden nicht besonders entspannt. Grund dafür ist die Sprachlosigkeit, die sich zwischen Vater und Tochter ausgebreitet hat, eine Lücke, welche bisher verlässlich von der Mutter gefüllt wurde („Sie ist meine Botin, trägt meine Worte zu dir und deine zurück zu mir“), nur ist die gerade mit Freundinnen verreist.
Über den eigenen Vater und ihre Familie hat die 1972 geborene Dilek Güngör bereits als Kolumnistin geschrieben. Ipek, die Hauptfigur ihres neuen, für den Deutschen Buchpreis nominierten Romans, lebt in Berlin und arbeitet als Journalistin. Wie die Autorin stammt sie aus einer Region, in der man Schwäbisch spricht. Obwohl sie sich schon als Kind in diesem Dialekt wohlfühlte („Ich mag den vertrauten Klang, und ich mag Wörter wie Bäbb und Klomb“), hatte Ipek damit zu kämpfen, von Mitschülern auf die türkische Herkunft ihrer Eltern, die als Gastarbeiter nach Deutschland kamen, reduziert zu werden.
Der Gebrauch der deutschen Sprache entfremdete sie wiederum vom Vater, und sie stellte fest, dass es für manche Wörter keine Entsprechung gibt: „Ayip gab es auf Deutsch nicht, weder als Wort noch als Konzept.“Nach Ipeks Kindheit war „mit einem Mal alles ayip“, was in etwa so viel wie „ungehörig“bedeutet. Es ziemte sich nicht mehr, „auf dem Sofa herumzuliegen, wenn du hereinkamst“, oder „im Unterhemd durch die Wohnung zu gehen“. So ging mit dem Erwachsenwerden die spielerische Ebene („Ich liebte unsere Blödeleien“) zwischen Vater und Tochter verloren.
Ipek hofft, das Schweigen zu überwinden, doch die Schwierigkeiten beginnen schon bei der Anrede: „Wir sagen nicht du, nicht Papa, nicht Vater, nicht Baba und du nicht Ipek.“Erzählerisch geht es einfacher. Der beobachtende und reflektierende Text ist direkt an den Vater adressiert, stellenweise wie ein Brief. Wer jetzt an eine Anklage denkt, liegt falsch. Letztlich will man sich gegenseitig nur Gutes, aber dieses Gute kommt ihnen nicht über die Lippen. So hangeln sich die beiden von einer Situation zur nächsten.
„Machen hilft“
Der eingespielte Humor lockert das Geschehen ebenso auf wie das gemeinsame Kochen oder ein Haarschnitt („Hast du besser gemacht als die Friseurin“). Beim Tapezieren eines Möbelstücks unter väterlicher Anleitung erkennt Ipek: „Machen hilft.“Arbeit, bisweilen harte, prägte schließlich das Leben des Vaters, von Kindheit an. Dafür, dass er als 14-Jähriger aus den beengten Verhältnissen des elterlichen Hofes ausgerissen und mit 21 Jahren nach Deutschland gegangen ist, bewundert sie ihn. Mit ein Grund, weshalb sie ihm „˙Ince Memed“(„Memed mein Falke“) geschenkt hat, den 1955 erschienenen Roman von Yas¸ar Kemal über einen jungen Mann aus armen Verhältnissen, der gegen einen anatolischen Großgrundbesitzer aufbegehrt. Ein Stück Weltliteratur, dem politischer Einfluss attestiert wurde. Ipek ortet Parallelen zwischen Memeds und des Vaters Kindheit, nur will er partout nicht darüber reden.
Nach ein paar Tagen stellt sie beim Reiskochen fest, dass sie nie mit ihm „ins Schwätzen“kommen wird. Die Stille, die sich beim Essen auftut, begreift Ipek plötzlich als Vertrautheit, als „warme Decke“, in die man sich einwickeln kann: „Kann nicht das Schweigen unsere Sprache sein?“