Einmal kurz die Welt retten
Man kann doch nicht über die Liebe schreiben, wenn ringsum alles zugrunde geht, schreibt die gefeierte irische Autorin Sally Rooney. In ihrem Roman „Schöne Welt, wo bist du“tut sie es trotzdem. Oder gerade deshalb.
Zunächst einmal eine Überraschung: Sally Rooney beschreibt. Die irische Autorin, die in ihren ersten beiden Romanen eine aufsehenerregende Knappheit an den Tag gelegt hat, die sich nicht aufhielt mit der Schilderung von Äußerlichkeiten wie Kleidungsstücken oder Straßenzügen, sondern völlig konzentriert schien auf das verwinkelte Seelenleben ihrer Figuren – sie vertieft sich plötzlich in Stillleben. Darin, wie das verbliebene Licht des Tages auf den Oberflächen des Wohnzimmers und der Küche schimmert: „dem Küchentisch, auf dem sich hier und da noch Krümel fanden; einer Obstschale mit einer braun werdenden Banane und zwei Äpfeln; einem gestrickten, nachlässig über das Sofa gebreiteten Überwurf; der dünnen grauen Staubschicht auf der Oberkante des Fernsehers; den Bücherregalen, den Tischlampen, einem Schachspiel auf dem Beistelltisch mit einem offenbar unbeendeten Spiel. So ruhte der Raum, während das Licht nachließ, während draußen im Hausflur Menschen die Treppen hinaufund hinuntergingen, während auf der Straße der Verkehr in Wellen weißen Rauschens vorbeizog.“
Und das von einer Autorin, die noch im Jahr davor im Interview mit der „Presse“erklärte, sie beschreibe ungern Gegenstände oder Umgebungen – und hätte auch schnell das Gefühl, damit die Zeit des Lesers zu stehlen.
So viel Sex war selten
Viel hat sich getan seither. Und nein, das Ergebnis ist kein „rundes“Buch, das einen von der ersten Seite an in Beschlag nimmt wie „Normale Menschen“oder „Gespräche mit Freunden“. Man muss sich darauf einlassen: auf diese Passagen, in denen sie das Geschehen so nüchtern und distanziert schildert, dass man meinen könnte, man habe es mit Regieanweisungen zu tun. Auf die zahlreichen und ausführlichen Sexszenen, die zuweilen erstaunlich hölzern erzählt sind (und dann wieder erstaunlich innig). Und den vielen Mails, die Rooneys Hauptfiguren, die erfolgreiche Schriftstellerin Alice und die verkrachte Literaturmagazin-Redakteurin Eileen, miteinander wechseln, und in denen sie über den Sinn der Schönheit und den Unsinn des Kinderkriegens philosophieren und über den Mangel an Ideen, für die es sich zu sterben lohnt – was manchmal klug ist, manchmal banal, aber in jedem Fall auch einen Einblick bietet, was Sally Rooney so umtreibt.
Denn manche Gedanken von Alice sind wohl auch die ihren, manche hier geäußerte
Skrupel haben vermutlich auch Rooney geplagt, als sie an ihrem dritten Werk saß. Etwa dass Romane die Realität der meisten Menschen auf der Erde ausblenden – müssen. „Wen würde es interessieren, was die Romanfigur erlebt, wenn sich dieses Erleben im Kontext einer zunehmend schnelleren, zunehmend brutaleren Ausbeutung des größten Teils der menschlichen Spezies ereignet? Trennen sich die Protagonisten oder bleiben sie zusammen? Es würde keine Rolle spielen in dieser Welt. Deshalb funktioniert der Roman, indem er die Wahrheit der Welt verdrängt – sie verschnürt und unter die glänzende Oberfläche des Textes schiebt. Meine eigene Arbeit, und das versteht sich von selbst, ist der schlimmste Missetäter in dieser Hinsicht. Deshalb glaube ich nicht, dass ich jemals einen neuen Roman schreiben werde.“
Sally Rooney hat jedenfalls trotz allem einen Roman geschrieben – und wieder steht im Mittelpunkt nicht das Elend der Welt, sondern ein Liebespaar. Sogar zwei sind es diesmal. Die verstörte Alice, der nach dem sensationellen Erfolg ihres Debüts der Trubel um sie zu viel wurde, die in ein Burn-out schlitterte und nun in einem stilvollen Häuschen auf dem Lande wieder Tritt zu fassen sucht, trifft auf den Lagerarbeiter Felix. Ein nicht gerade intellektueller Typ, allerdings mit einer außergewöhnlichen Singstimme (man fragt sich ein bisschen, ob Rooney damit das erotische Interesse ihrer Figur rechtfertigen will). Und ihre beste Freundin Eileen beginnt eine Affäre mit ihrer Jugendliebe und jetzigem „besten Freund“: Simon. Eine Affäre, die übrigens damit beginnt, dass ein harmloses Gespräch zum Telefonsex eskaliert.
Schreiberische Skrupel
Und beide Male die Frage: Werden sie sich kriegen? Und ja, da fiebern wir mit, wie vorhergesagt, dem ganzen Elend der Welt zum Trotze, da leiden wir mit Alice, die sie so offen vor sich herträgt, wie sehr ihr dieser Felix gefällt, da wollen wir, dass diese so süße und tiefe und alte Liebe zwischen Eileen und Simon endlich, endlich Erfüllung findet; das ist doch nicht möglich, dass die beiden, die schon als Teenager den Blick nicht voneinander lassen konnten, jetzt so erschüttert und verheult beim Frühstückstisch sitzen. Es kann doch, kaum haben sie sich endlich gefunden, nicht alles schon wieder aus sein!?
Und dann fragt man sich, wie das mit den schreiberischen Skrupeln zusammengeht, mit dieser Scheu, in Zeiten wie diesen über Gefühle zu schreiben, zumal Rooney diesmal nicht recht gelingen will, was ihr in „Normale Menschen“so bestechend geglückt ist: anhand der Beziehung zweier Menschen von gesellschaftlicher Macht und Ohnmacht zu erzählen – und von sozialen Verwerfungen.
Aber vielleicht liegt die politische Kraft dieses Romans auch ganz woanders: in einer Art von Utopie, die Sally Rooney entwirft. In dieser Utopie ist Gespräch möglich, ist Austausch möglich, über gar alles. Da legt jeder seine Gefühle bloß, sein Begehren, rückhaltlos. „Vielleicht“, sagt Eileen, „sind wir nur dafür auf der Welt, um die Menschen, die wir kennen, zu lieben, um uns um sie zu sorgen, und selbst dann noch zu lieben und uns zu sorgen, wenn es Wichtigeres zu tun gäbe. Und sollte das bedeuten, dass die menschliche Spezies aussterben wird, dann ist das doch irgendwie ein schöner Grund, um auszusterben, der schönste überhaupt, den man sich vorstellen kann, oder? Weil wir, anstatt die Umverteilung der globalen Ressourcen zu organisieren und gemeinschaftlich zu einem nachhaltigen Wirtschaftssystem überzugehen, mit den Gedanken bei Sex und Freundschaften waren.“
„Wo bist du, schöne Welt?“, fragte einst Schiller, klagte einst Schiller: „Kehre wieder, holdes Blütenalter der Natur.“Sally Rooneys Antwort: Sie erschafft ein neues Paradies. Hier versöhnt man sich. Hier liebt man sich. Hier ruht ein Raum, während das Licht nachlässt und die Oberflächen der Küche schimmern. Ach.