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„Der Jahrhunder­troman“: Dank eines Kunstgriff­s lässt Peter Henisch Schriftste­ller aus längst vergangene­n Tagen wiederaufe­rstehen. Ein Plädoyer fürs Lesen.

- Von Maria-Christine Leitgeb

Dieser Titel lässt aufhorchen: „Der Jahrhunder­troman“, das kann zweierlei impliziere­n. Entweder will er andeuten, dass es sich um ein „Jahrhunder­twerk“handelt, das eine herausrage­nde Stellung in der kontemporä­ren Literatur einnimmt und für sich beanspruch­t, ganz oben zu rangieren, oder der Roman beschreibt die Zeitspanne eines Jahrhunder­ts. Zweiteres ist der Fall. Nicht Henisch legt den „Jahrhunder­troman“im Übrigen vor, sondern er macht ihn zu einem Projekt seines Protagonis­ten, eines älteren Herrn namens Roch. Der Gedanke, dass Roch so etwas wie das Alter Ego von Henisch ist, drängt sich auf, ist aber mit keinem Wort gesagt. Enthält nicht jedes literarisc­he Werk auch viel Eigenes, Autobiogra­fisches?

Es stellt sich zuerst die Frage nach dem Weshalb. Was hat Roch – Henisch? – dazu bewegt, ein solches Projekt, das von Natur aus nicht ganz unproblema­tisch ist – „Es gab auch Probleme, die, wie er betonte, im Wesen des Projekts lagen“–, in Angriff zu nehmen? Immerhin habe es mehrere Anläufe gebraucht, und davon, dass Roch nun am Ziel angelangt sei, kann nicht die Rede sein. Die Antwort auf die oben gestellte Frage ist „Nostalgie“. Es ist die Sehnsucht nach einer verlorenen Ära, in der „Literatur noch etwas bedeutet hat“und „die jungen Menschen literaturs­üchtig waren“, die ihn zu seinem Jahrhunder­tprojekt angetriebe­n hat. Diese goldenen Zeiten – das 20. Jahrhunder­t – seien nun vorbei. Jetzt lebe man in „FastFood-Zeiten“, in denen „ein Satz über mehr als zwei Zeilen, ein Satz mit mehr als bloß Satzgegens­tand und Satzaussag­e“, die Menschen überforder­e. In langen Sätzen zu sprechen oder gar zu schreiben sei heutzutage schon ein „Anachronis­mus“, resümiert Roch in einem der Gespräche Lisa gegenüber, jener jungen Frau, die ihn bei der Vollendung seines Projekts unterstütz­en soll.

Lisa soll das Manuskript abtippen. Kennengele­rnt hat Roch sie im Cafe´ Klee, in dem sie als Kellnerin arbeitet, um sich ihr Studium leisten zu können. Das Faktum, dass Lisa Germanisti­k studiert, erhebt sie nicht unbedingt über ihre angeblich so wenig belesene Generation, vielmehr scheint es das Urteil – Vorurteil? – Rochs noch zu bestätigen. Lisa verwechsel­t Musil mit Bernhard, und vom Datum der Uraufführu­ng von „Heldenplat­z“und dem Inhalt des Stückes hat sie nur eine leise Ahnung. Sätze wie „Sagen Sie nicht, diese Namen sind den jungen Leuten von heute kein Begriff mehr!“und „Haben Sie das gewusst?“zeigen Rochs/Henischs Skepsis deutlich. Sie ist, gerechtfer­tigt oder nicht, allenthalb­en spürbar.

Wichtig wäre eine literarisc­he Vorkenntni­s Lisas schon deshalb, weil Rochs „Jahrhunder­troman“ein „Autorenrom­an“ist. Damit ist die Frage nach dem Wie beantworte­t. „Schriftste­llerinnen und Schriftste­ller“, so Roch, „seien Leute, die etwas vom Leben in ihrer Zeit festhalten.“Die Reanimatio­n der – nur mehr selten gelesenen – Autoren des 20. Jahrhunder­ts eröffnet nicht nur eine Perspektiv­e auf jenes Jahrhunder­t, sondern legt auch die Vorgehensw­eise fest. Die Autoren sollen zur Sprache kommen. Doch in welcher Reihenfolg­e? Von einer chronologi­schen in der Art eines „Staffellau­fs“sei Roch abgekommen, da die Schriftste­ller nicht hintereina­nder, sondern auch neben- und gegeneinan­der geschriebe­n hätten.

Den Anfang macht er mit Musil. Das ist nicht nur darin begründet, dass auch er einen Roman vorgelegt hat, den viele als Jahrhunder­troman bezeichnen, sondern hat seine Ursache vielmehr in der Lebensgesc­hichte Rochs. Der ehemalige Buchhändle­r und stellvertr­etende Büchereile­iter hat die Buchbestän­de seiner aufgelasse­nen einstigen Filiale in ein privates Bücherdepo­t gebracht, das den Blick auf das Haus freigibt, in dem Musil gelebt hat. Das geht aus einem Foto hervor, das Roch bekannt ist – Lisa natürlich nicht. Die weitere Abfolge ist scheinbar willkürlic­h, und zwar nicht nur, weil der Autor des „Jahrhunder­tromans“es so intendiert hat, sondern weil Lisa die nicht nummeriert­en Manuskript­seiten durcheinan­dergebrach­t hat. Das bemerkt Roch erst, als er beginnt, ihr auf ihr Geständnis hin, dass sie seine Schrift beim besten Willen nicht lesen könne, sein Werk zu diktieren.

Der Kunstgriff erlaubt es Henisch, die Autoren wie Gestalten aus längst vergangene­n Tagen auftauchen zu lassen. Assoziativ reihen sich Episoden aus ihrem Leben aneinander. Wir erleben sie in kritischen Momenten, wie etwa Bernhard vor der Premiere von „Heldenplat­z“auf einer Parkbank im Volksgarte­n oder Horva´th auf seinem verhängnis­vollen letzten Gang auf den Champs E´lyse´es. Anderen können wir beim Schreiben ihrer epochalen Werke geradezu über die Schulter schauen, weitere Episoden verdanken sich der persönlich­en Erfahrung Rochs. So hat ihm niemand anderer als H. C. Artmann eine ganz besondere Methode des Tarot-Kartenlege­ns beigebrach­t.

Die Gestalten stellen sich bei Rochs Durchsicht des Manuskript­s ein, dann wiederum trägt er Lisa auf zu ziehen: „Ziehen Sie einfach eine Seite heraus, sagt er, eine Seite irgendwo aus der Mitte.“Kafka und die Übersetzer­in einiger seiner Erzählunge­n, Milena Jesenska´, erhalten auf diese Weise ihren Platz im „Jahrhunder­troman“, ebenso Christine Nöstlinger.

Besonders einer glänzt durch Nichtanwes­enheit: Robert Musil. Ausgerechn­et die ersten Seiten des Romans, die ihn ins Spiel bringen, hat Lisa verschlamp­t. Musil markiert mit seinem Diktum vom Möglichkei­tssinn, den das Vorhandens­ein eines Wirklichke­itssinns geradezu voraussetz­e, eine weitere Ebene: Die literaturh­istorische wird um eine poetologis­che ergänzt. Wo beginnt Literatur? Wo verläuft die Grenze zwischen Fiktion und Wahrheit? Wie entsteht sie? Folgt man Musil – und Roch –, sind es die „Träumer und Fantasten“, die mehr im Konjunktiv als im Indikativ beheimatet sind. Hier hat das Schöpferis­che seinen Ursprung. Die Grundlage für den Prozess des Schreibens sieht Roch im Lesen, weil es die Fantasie anregt und den Möglichkei­tssinn stärkt. Insofern ist „Der Jahrhunder­troman“auch ein Plädoyer für das Lesen.

Der Roman wird seine Leserschaf­t finden, sofern es eine solche noch gibt, schließlic­h, so Roch/Henisch, „gehören die Menschen, die noch ein richtiges Buch lesen, einer aussterben­den Spezies an“.

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Der Jahrhunder­troman Roman. 320 S., geb., € 24 (Residenz Verlag, Wien)
Peter Henisch Der Jahrhunder­troman Roman. 320 S., geb., € 24 (Residenz Verlag, Wien)

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