Laut sind meist nur die Zikaden
Schritt für Schritt kehrte im einstigen Corona-Hotspot Lusitanien der Alltag zurück. Der Rest Europas blickt begehrlich nach Lissabon, wo viele Straßencaf´es wieder voll sind, auch an der Algarve sind Gäste wieder unterwegs.
Er ist der Herr über ein Luftschloss. Wenn der märchenhafte Pa´lacio da Pena bisweilen wie ein Fantasiegespinst aus tausendundeiner Nacht aus dem Dunst um den Gipfel der Serra de Sintra ragt, hat Anto´nio Nunes Pereira seinen Sitz buchstäblich in den Wolken.
Das Schloss ist wohl die meistbesuchte und eine der bekanntesten Sehenswürdigkeiten Portugals außerhalb Lissabons. „Eine Ikone des Tourismus“, sagt der Direktor der Paläste und Parks von Sintra. Zumindest war er das vor der Pandemie. 2,1 Millionen Menschen besuchten die Parkanlagen von Pena 2019 – „ein Rekordjahr“. In den königlichen Gemächern standen die Touristen in der Hauptsaison in einer schier endlosen Schlange.
Jetzt hallen nur wenige Schritte durch die Schlosskapelle. „Dass überhaupt keine Besucher kommen konnten wie während des Lockdowns, gab es in der langen Geschichte des Palasts davor nie“, räsoniert der Direktor. Zwar stehen die Räume seit Monaten wieder Touristen offen, vor allem aber haben Portugiesen sie jedoch seither wieder besucht.
Wie am Pala´cio da Pena bietet sich auch vor anderen touristischen Sehenswürdigkeiten des Landes ein ähnliches Bild: Vorwiegend sind Einheimische unterwegs, wo in vorpandemischen Zeiten ein Massenandrang von Besuchern aus aller Welt Alltag war.
Dramatische Lage im Jänner
2019 besuchten 16,4 Millionen ausländische Besucher Portugal. Die Pandemie traf den Tourismus als einen der wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes besonders hart. Viele Hotels, Restaurants und auf den Fremdenverkehr ausgerichtete Betriebe mussten monatelang oder für immer schließen. Unzählige Menschen verloren ihre Arbeitsplätze.
2020 waren weniger als vier Millionen ausländische Gäste gekommen. Während das Land zunächst glimpflich durch die Pandemie gekommen war, spitzte sich die Lage zu Jahresbeginn 2021 dramatisch zu. Ende Januar verzeichnete Portugal die weltweit höchste Infektionsrate. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen stieg auf über 16.000. An einzelnen Tagen starben mehr als 300 Portugiesen. Die Algarve gilt noch immer als Hochrisikogebiet.
Fernando Pinto, 56, wartet in seinem Restaurant O Pescador im historischen Zentrum der Hafenstadt Cascais westlich von Lissabon auf mehr Gäste. In der ehemaligen Fischertaverne erinnern alte Modelle bekannter Segelschiffe an die glorreiche Seefahrergeschichte Portugals. Daneben hängen verblichene Fotos vom Who’s who des europäischen Adels und der Stars und Künstler, mit denen er sich gern umgab.
Cascais war seit dem 19. Jahrhundert ein Treffpunkt europäischer Fürstenhäuser. Im O Pescador stellten sich Prince Edward, Juan Carlos I. und Umberto II. ein, um von seinen legendären Fischgerichten zu probieren. Auch Julio Iglesias, Mick Jagger, Bryan Adams, Norah Jones und die Fadosängerin Ama´lia Rodrigues waren bei Fernando Pinto oder bei seinem Vater zu Gast, der das Restaurant seit 1964 führte.
Hohe Impfrate im EU-Vergleich
„Selbst während der Revolution in den Siebzigern hatten wir nie länger geschlossen“, sagt Pinto. Von Ende Dezember bis 19. April mussten sämtliche Restaurants in Portugal zusperren.
Mittlerweile freuen sich viele über eine doch noch zaghaft angelaufene Saison. Unter Auflagen durften Restaurants, Cafe´s und Kultureinrichtungen in Portugal nach dem 1. Mai wieder bis 22.30 Uhr aufmachen, nunmehr bis zwei Uhr morgens. Der Corona-Ausnahmezustand wurde damals nach fünfeinhalb Monaten nicht mehr verlängert. Schon seit Mitte März hatte sich das Land nach einem knallharten Lockdown wieder vorsichtig Schritt für Schritt geöffnet. Die meisten machten die Disziplin – andere sagen: die Obrigkeitshörigkeit – der Portugiesen während der strikten Ausgangssperren für den schnellen Wandel verantwortlich. Kritik an den Maßnahmen der Regierung gab es eigentlich wenig. Hinsichtlich der aktuellen Quote vollständig Geimpfter liegt Portugal bei an die 73 Prozent, höher als der europäische Durchschnitt.
Unter sich und auf Abstand
Die Portugiesen scheinen mittlerweile nicht mehr unter sich zu bleiben: In Lissabon sind viele Straßencafe´s voll, und in die Altstadtgassen ist fast das emsige Leben aus vorpandemischen Zeiten zurückgekehrt. Bis allerdings die ausländischen Touristen wieder in Massen die Plätze und Museen füllen werden, dürfte aber noch einige Zeit vergehen. Als hätte es das Thema Overtourism nicht gegeben.
Auf den vielen Stränden der Algarve sind nicht nur Einheimische und die Zweitwohnsitz-Inhaber unterwegs. Es suchen auch Touristen diesen wildromantischen Küstenabschnitt auf. Entlang der Praia do Martinhal bei Sagres ganz im Südwesten Portugals zum Beispiel, wo Wind und Wellen eine besondere Stimmung erzeugen. Atlantikwellen brechen sich an den vorgelagerten Felseninselchen, fallen fauchend von den Klippen, das gefällt auch den Surfern in der äußersten Ecke von Europa.
2010 öffnete dort am Rand der weiten Sandbucht das Martinhal Sagres. Das von dem singapurischschweizerischen Unternehmerpaar Chitra und Roman Stern gegründete Resort ist ganz auf wohlhabende Familien ausgerichtet, die eine Auszeit am Meer suchen. Lang vor der Pandemie haben sich die Sterns, selbst Eltern von vier Kindern, auf Reisen immer einen Ort gewünscht, an dem Spaß für die Kinder und echte Erholung für die Eltern sich nicht gegenseitig ausschließen und der Abstand zu Miturlaubern frei wählbar ist. „Wir haben diese Club-Hotels, die Familien einander aufzwingen, nie gemocht“, sagt Roman Stern. „Im Urlaub sollte jede Familie selbst entscheiden, wie viel Privatsphäre und Nähe sie zu anderen haben will.“
Algarve-Urlaub mit der Familie
Im Martinhal Sagres wählen Eltern unabhängig, ob sie selbst in ihrer Küche kochen oder im Restaurant oder auf der eigenen Terrasse einen Douro-Wein trinken möchten, während die Kinder betreut werden oder mountainbiken, kayaken und windsurfen. Vom Spielplatz des Resorts tönt Kinderrufen in Englisch, Deutsch und Portugiesisch herüber zu einem kleinen Supermarkt, in dem Windeln, Feuchttücher und BabySpielzeug die Regale füllen. „Hier kann man ja offen sprechen“, sagt eine Berliner Mutter, deren Kinder sich gerade auf einem Trampolin austoben, „zu Hause wird man ja mancherorts beim Wort Urlaub im Ausland schon merkwürdig angesehen.“
Auf die Rückkehr der Urlauber wartet auch Ana Lu´cia Marques schon lang. Familien, die an der Algarve mehr erleben möchten als überlaufene Strände und Hotelpools, führt sie seit 2014 durch das Hinterland – auf dem Eselsrücken. Gemeinsam mit dem Besitzer gestaltete sie einen ausgedienten Bauernhof in einen Eselhof um. Aus ursprünglich sieben Eseln der seltenen portugiesischen MirandaRasse sind in Burro Ville inzwischen 41 Tiere geworden. „Ich glaube, dass sich gerade jetzt viele Menschen nach Entschleunigung sehnen“, sagt Marques bei einem Picknick unter einer alten Korkeiche, „bei einem Eselausritt stellen viele erst fest, wie entspannt Urlaub sein kann.“
Stillere Algarve
An diesem strahlenden Tag sträubt sich Falancia, die achtjährige Eselin – ganz arttypisch – hartnäckig, ihre heutige Fracht, zwei entzückte Dreijährige, noch weiter durch die blühende Macchie zu tragen. Störrisch stellt sie sich quer und lässt sich eine Portion Kräuter am Wegrand munden. Bis sie sich endlich wieder in Gang setzen mag, verrinnen nur langsam flimmernd die Minuten in der Nachmittagssonne. Zikaden surren. Ein Schwarzkehlchen singt sein schäkerndes Lied. Durch den Schatten knorriger Ölbäume taumeln Schmetterlinge und schießen knatternd hellblaue Libellen. In der Luft liegen die Aromen von Rosmarin und Wildblumen – sie dringen selbst durch die Schutzmaske. Und plötzlich ist der Schatten der Pandemie so weit weg wie das andere Ende Europas. Einen kurzen Augenblick lang steht auch an der Algarve die Zeit still.