Ratten und Rage in der Retro-Welt
Peter Turrinis zorniges Debütstück „Rozznjagd“zum 50-Jahr-Jubiläum in einer konsequent historisierenden Inszenierung: Das funktioniert erstaunlich gut.
Meine Stücke sind jetzt wichtig und morgen Papier“, schrieb Peter Turrini 1972 anlässlich einer Aufführung seiner „Rozznjagd“. Die Vorhersage ist nicht eingetroffen: Dieses vor Leidenschaft, ja vor Zorn brennende Werk eines 23-jährigen Werbetexters hat den Test der Zeit bestanden, es ist auf den Spielplänen geblieben. Oft an die geänderten Umstände und an den Dialekt des jeweiligen Aufführungsorts adaptiert, wie Turrini es schon 1967 vorgeschrieben hat.
Diesmal nicht. Über 50 Jahre nach der Uraufführung – im Jänner 1971 im Volkstheater – hat Werner Sobotka die „Rozznjagd“im Rabenhoftheater konsequent historisierend inszeniert. Originaltext, alle Regieanweisungen befolgt. Salopp gesagt: alles Vintage. Auch die Sprache. Die beiden Namenlosen auf dem Mistplatz sprechen den gern in Meidling verorteten Mundl-Dialekt, der heute aufgesetzt ordinär wirkt; sie verwenden Wörter, die heute nur mehr Wiener über 60 (und Voodoo Jürgens) verwenden, Olla (für Präservative), Pepi (für Perücke) und Hamdrah’n (für Tötung); sie befreien sich von der Tlapa-Toga und vom GerngroßKaftan (im Original: Herzmansky-Kaftan, der Unterschied ist subtil); sie gehen am Sonntag ins Kino, in „Tschin-Bumm-Filme“, ihr Inbegriff von saftiger Film-Männlichkeit ist Charles Bronson (im Original: Stewart Granger, den kennt man heute offenbar noch weniger). Er trägt Vokuhila, Veloursleder und Krawatte, sie Blümchen und weiße Stiefel.
Kann das gut gehen? Müsste man das Setting nicht in die Gegenwart transferieren? Die Looks aktualisieren? Die Anspielungen an die Gegenwart anpassen? Der Sprache ein bisschen Türken-Akzent und/oder Fernseh-Rheinisch beimischen? Müssten die beiden, wenn sie sich von allen Segnungen und Lasten der Zivilisation befreien, heute nicht vor allem ihr Handy wegwerfen?
Glauben wir noch an edle Wilde?
Nein. Es funktioniert auch so. Man versteht auch so, was die beiden antreibt. Das heißt: Es kommt uns heute wohl (noch) befremdlicher vor als dem Volkstheater-Publikum vor einem halben Jahrhundert, als Franz Morak und Dolores Schmidinger – beide waren im Rabenhof anwesend – sich freimachten. Gewiss: Das einst von Rousseau auf den Punkt gebrachte Ideal des edlen Wilden ist heute noch weitverbreitet, und mit ihm die im Grunde biblische Idee, dass erst die Zivilisation (oder die Technik oder der Kapitalismus oder das Staatswesen) alles Übel in die Welt gebracht habe. Doch wir entdecken die edlen, zu entkleidenden und befreienden Wilden eher nicht mehr unter uns, in Europa, in Österreich, in Wien. Und vielleicht würden wir uns heute fragen: Und was ist mit dem Herzschrittmacher, muss der auch auf den Müll?
Dass der junge Turrini sich dergleichen nicht gefragt hat, dass er seine beiden Personen lieber die Befreiung in rasender Konsequenz vollziehen ließ, so konsequent, dass sie nicht überleben können, dass er sie am Schluss opfern muss, das macht die naive Kraft seines Stücks aus. Und diese Kraft wirkt auch heute noch.
Dazu trägt bei, dass Werner Sobotka die Ausbrüche der beiden zwar in gnadenloser Intensität inszeniert, dazwischen aber Platz für Stille lässt. Erst als es an das Ausräumen des Autos geht, schlägt heftige Metal-Musik den Takt, und beim Freak-out vor dem Finale ist Roy Black am Wort: „Du bist nicht allein, wenn du träumst von der Liebe . . .“
Bringt Liebe die Befreiung? (Und den Tod?) Oder ist umgekehrt die Liebe erst nach der radikalen Befreiung möglich? Was geht überhaupt vor in den beiden? Völlig plausibel kann der Ausbruch nicht werden in diesem modernen Märchen. Doch Josef Ellers müht sich nach Kräften und mit melancholischen Augen, den Antrieb des Mannes glaubhaft zu machen, der sein Welt- und Menschenverständnis aus dem Verstehen der Automechanik ableiten will. Und wenn er nach dem Wüten kurz innehält, spürt man, dass er selbst bestürzt ist, was ihn da überkommen hat. Sophie Aujesky folgt ihm erst mit rauestem Charme, übernimmt aber bald die eigentliche Führung in diesem existenziellen Spiel.
Der wilde Nackttanz am Schluss funktioniert schlecht, obwohl ihn Sobotka ohnehin entschärft hat. In den Regieanweisungen stünde z. B.: „Sie simulieren Beischlaf, Onanie, Masturbation. Sie besudeln einander.“Dergleichen geht wohl nicht mehr nach der Erfahrung, was aus antizivilisatorischer Körpertherapie a` la Otto Mühl werden kann.
Auch das Nachspiel ist milder geworden. Die Männer, die das Paar erschießen, feuern danach nicht mehr ins Publikum. Wir haben das Stück also überlebt, so wie dieses überlebt hat. Schauen wir in fünfzig Jahren, ob es dann noch ohne Adaptionen wirkt . . .