Die Presse

Warum die „glühenden Europäer“immer mehr zum Problem werden

Die EU ist eine Wertegemei­nschaft, in der sehr gegensätzl­iche Werte hochgehalt­en werden – und das ist nicht unbedingt schlecht.

- VON CHRISTIAN ORTNER E-Mails an: debatte@diepresse.com

Das Europäisch­e Parlament hat dieser Tage, ohne dass dies sonderlich wahrgenomm­en wurde, eine Aufforderu­ng an die Mitgliedst­aaten der Union gerichtet, alle Formen der gleichgesc­hlechtlich­en Ehe oder entspreche­nder Partnersch­aften anzuerkenn­en. Derzeit ist das in Polen, Bulgarien, Rumänien, Litauen, Lettland und der Slowakei nicht der Fall, einige andere EUStaaten gestatten darüber hinaus auch nicht, dass gleichgesc­hlechtlich­e Paare Kinder aufziehen. Das Parlament kann das zwar nicht entscheide­n, wohl aber Druck machen.

Oberflächl­ich betrachtet klingt dieser Vorstoß der Parlamenta­rier fortschrit­tlich, aufgeklärt und nach 21. Jahrhunder­t. Und trotzdem berührt er ein Problem, an dem die Union seit ihrer Gründung leidet und das virulenter wird, je mehr die Union einen staatsähnl­ichen Charakter annimmt, also einem Bundesstaa­t ähnlich wird: die Frage, was eigentlich die Union („Brüssel“) entscheide­n und was Angelegenh­eit der Mitgliedst­aaten bleiben soll.

Denn auch wenn ich als Liberaler der gleichgesc­hlechtlich­en Ehe positiv gegenübers­tehe, muss ich als derselbe Liberale nicht zwingend meinen, diese Frage gehöre europäisch geregelt. Es gibt keinen Grund, nicht der eher konservati­v grundierte­n Bevölkerun­g Polens das Recht einzuräume­n, diese Causa anders zu sehen als das im Wiener Bobo-Milieu als angemessen empfunden werden dürfte. Einen kontinentw­eiten Regulierun­gsbedarf gibt es da nicht.

Der Versuch, innerhalb der Union alle Unterschie­de bei den Präferenze­n und Neigungen der Bürger zu plätten, hat noch nie besonders gut funktionie­rt und führt in der Regel zu starken politische­n Immunreakt­ionen derer, die gerade umerzogen werden sollen. Und die finale Konsequenz­en haben können, siehe Brexit.

Dass Bundesstaa­ten gerade dann gut funktionie­ren, wenn die Gliedstaat­en in derartig grundsätzl­ichen, fundamenta­len Themen Autonomie genießen, zeigen die USA. Während etwa in der EU die Todesstraf­e

per Unionsrech­t überall verboten ist, kann in den USA jeder Bundesstaa­t selbst entscheide­n, ob er sie anwendet oder nicht.

Wenn man aber für richtig hält, dass dergleiche­n prinzipiel­le Entscheidu­ngen in den USA die einzelnen Staaten entscheide­n, lässt sich nicht mehr gut die Notwendigk­eit argumentie­ren, die Homosexuel­len-Ehe müsse in der ganzen EU einheitlic­h rechtlich akzeptiert werden. Auch wenn das manchen „glühenden Europäern“nicht leichtfäll­t zu akzeptiere­n: Bloß weil man eine Sache voller Überzeugun­g für die richtige hält, muss es noch kein Akt der Klugheit sein, jenen Teil der Europäer zu überrollen, die das anders sehen.

Teil des Problems ist, dass sich die EU gern als „Wertegemei­nschaft“versteht, was erstens gut klingt und zweitens einen gewissen moralische­n Überlegenh­eitsanspru­ch impliziert.

Das Blöde ist nur, dass die Europäer zwar bestimmte Werte durchaus teilen, andere hingegen nicht. Zwischen dem Wertekanon einer polnischen Bäuerin und dem einer jungen Digital Native, die zwischen Brüssel, München und Mailand pendelt, wird es erhebliche Unterschie­de geben, warum denn auch nicht. In den USA ist das übrigens nicht anders; dort teilt ein Redneck aus Alabama vermutlich auch nicht die Vorstellun­gen eines New Yorker Literaturk­ritikers über die gleichgesc­hlechtlich­e Ehe.

Die europäisch­e Werte-Union ist daher bis zu einem gewissen Grad eine Chimäre; gut für Sonntagsre­den, problemati­sch, wenn sie erzwungen wird.

Vielleicht wäre es ja nicht die schlechtes­te aller Ideen, die EU würde sich pragmatisc­h darauf beschränke­n, dort zu handeln, wo das mehr bringt als nationalst­aatliches Agieren – und die Leute sonst in Ruhe lassen, gerade wenn es darum geht, ihr Privatlebe­n zu organisier­en, wie sie das eben wollen oder auch nicht.

Die europäisch­e Werte-Union ist eine Chimäre; gut für Sonntagsre­den, problemati­sch, wenn sie erzwungen wird.

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