Warum die „glühenden Europäer“immer mehr zum Problem werden
Die EU ist eine Wertegemeinschaft, in der sehr gegensätzliche Werte hochgehalten werden – und das ist nicht unbedingt schlecht.
Das Europäische Parlament hat dieser Tage, ohne dass dies sonderlich wahrgenommen wurde, eine Aufforderung an die Mitgliedstaaten der Union gerichtet, alle Formen der gleichgeschlechtlichen Ehe oder entsprechender Partnerschaften anzuerkennen. Derzeit ist das in Polen, Bulgarien, Rumänien, Litauen, Lettland und der Slowakei nicht der Fall, einige andere EUStaaten gestatten darüber hinaus auch nicht, dass gleichgeschlechtliche Paare Kinder aufziehen. Das Parlament kann das zwar nicht entscheiden, wohl aber Druck machen.
Oberflächlich betrachtet klingt dieser Vorstoß der Parlamentarier fortschrittlich, aufgeklärt und nach 21. Jahrhundert. Und trotzdem berührt er ein Problem, an dem die Union seit ihrer Gründung leidet und das virulenter wird, je mehr die Union einen staatsähnlichen Charakter annimmt, also einem Bundesstaat ähnlich wird: die Frage, was eigentlich die Union („Brüssel“) entscheiden und was Angelegenheit der Mitgliedstaaten bleiben soll.
Denn auch wenn ich als Liberaler der gleichgeschlechtlichen Ehe positiv gegenüberstehe, muss ich als derselbe Liberale nicht zwingend meinen, diese Frage gehöre europäisch geregelt. Es gibt keinen Grund, nicht der eher konservativ grundierten Bevölkerung Polens das Recht einzuräumen, diese Causa anders zu sehen als das im Wiener Bobo-Milieu als angemessen empfunden werden dürfte. Einen kontinentweiten Regulierungsbedarf gibt es da nicht.
Der Versuch, innerhalb der Union alle Unterschiede bei den Präferenzen und Neigungen der Bürger zu plätten, hat noch nie besonders gut funktioniert und führt in der Regel zu starken politischen Immunreaktionen derer, die gerade umerzogen werden sollen. Und die finale Konsequenzen haben können, siehe Brexit.
Dass Bundesstaaten gerade dann gut funktionieren, wenn die Gliedstaaten in derartig grundsätzlichen, fundamentalen Themen Autonomie genießen, zeigen die USA. Während etwa in der EU die Todesstrafe
per Unionsrecht überall verboten ist, kann in den USA jeder Bundesstaat selbst entscheiden, ob er sie anwendet oder nicht.
Wenn man aber für richtig hält, dass dergleichen prinzipielle Entscheidungen in den USA die einzelnen Staaten entscheiden, lässt sich nicht mehr gut die Notwendigkeit argumentieren, die Homosexuellen-Ehe müsse in der ganzen EU einheitlich rechtlich akzeptiert werden. Auch wenn das manchen „glühenden Europäern“nicht leichtfällt zu akzeptieren: Bloß weil man eine Sache voller Überzeugung für die richtige hält, muss es noch kein Akt der Klugheit sein, jenen Teil der Europäer zu überrollen, die das anders sehen.
Teil des Problems ist, dass sich die EU gern als „Wertegemeinschaft“versteht, was erstens gut klingt und zweitens einen gewissen moralischen Überlegenheitsanspruch impliziert.
Das Blöde ist nur, dass die Europäer zwar bestimmte Werte durchaus teilen, andere hingegen nicht. Zwischen dem Wertekanon einer polnischen Bäuerin und dem einer jungen Digital Native, die zwischen Brüssel, München und Mailand pendelt, wird es erhebliche Unterschiede geben, warum denn auch nicht. In den USA ist das übrigens nicht anders; dort teilt ein Redneck aus Alabama vermutlich auch nicht die Vorstellungen eines New Yorker Literaturkritikers über die gleichgeschlechtliche Ehe.
Die europäische Werte-Union ist daher bis zu einem gewissen Grad eine Chimäre; gut für Sonntagsreden, problematisch, wenn sie erzwungen wird.
Vielleicht wäre es ja nicht die schlechteste aller Ideen, die EU würde sich pragmatisch darauf beschränken, dort zu handeln, wo das mehr bringt als nationalstaatliches Agieren – und die Leute sonst in Ruhe lassen, gerade wenn es darum geht, ihr Privatleben zu organisieren, wie sie das eben wollen oder auch nicht.
Die europäische Werte-Union ist eine Chimäre; gut für Sonntagsreden, problematisch, wenn sie erzwungen wird.