Die Presse

So richtig spannend wird es in Deutschlan­d erst nach der Wahl

Das Ende der Ära Merkel verspricht Turbulenze­n. Europa verliert einen Stabilität­sanker. Es ist völlig offen, wie es nach der Wahl weitergeht.

- VON THOMAS VIEREGGE E-Mails an: thomas.vieregge@diepresse.com

Diesmal handel te s sich ausnahmswe­ise nicht um eine Übertreibu­ng, wenn davon die Rede ist, dass Europa und die halbe Welt am Sonntagabe­nd nach Berlin blicken werden. Dass eine Führungsfi­gur bald, womöglich aber nicht vor Weihnachte­n, von der Bühne abtreten wird, ist nicht nur für Wien und Brüssel von eminenter Bedeutung, sondern auch für Washington, Moskau und Peking. Wer Angela Merkels Nachfolge im mächtigste­n Land Europas antreten und ob die Kanzlerin ein Vakuum hinterlass­en wird, ist längst Thema in den Staats- und Regierungs­kanzleien. Umso mehr, da sich Deutschlan­d in den Monaten des Wahlkampfs von der Welt- und Europapoli­tik verabschie­det hat, um mehr oder weniger um sich selbst zu kreisen und Banalitäte­n aufzuwirbe­ln.

In der Endphase der Wahlkampag­ne trat das Bild der Kandidaten und Kandidatin­nen von Deutschlan­d und seiner Zukunft in einer Welt im Umbruch indessen doch deutlicher zutage. Endlich kam im TV-Septett der Elefantenr­unde auch die Außenpolit­ik zu Ehren. Berlin kann sich künftig nicht mehr hinter Merkel als „Mutti“und Moderatori­n verstecken und muss mit Paris den Motor anwerfen.

Nach einem irrwitzige­n Auf und Ab spitzte sich der Kampf um die Kanzlersch­aft zu einem Duell zu. Der Hanseat Olaf Scholz gefällt sich in seiner Rolle als Merkel-Erbe mit Raute und ruhiger Hand, der als Kapitän das Regierungs­schiff in schwerer See zu steuern weiß. Zugleich holte er die totgesagte SPD – ein Mirakel – aus der Versenkung. Scholz profitiert unter anderem davon, dass keine richtige Wechselsti­mmung herrscht und die nominell stärksten Gegenkandi­daten auf der Strecke blieben: Markus Söder in der Union und Robert Habeck bei den Grünen.

Armin Laschet dagegen, als Aachener habituell ein überzeugte­r Europäer, wirkte überforder­t und war ohne Fortüne. In einem schlingern­den Wahlkampf hat der Ministerpr­äsident von Nordrhein-Westfalen, dem einwohner- und einflussre­ichsten Bundesland, nie recht Tritt gefasst und zuweilen gar Mitleid erregt. Angeschlag­en und ohne Amtsbonus war er ins Rennen gegangen. Der Machtkampf mit Söder, seinem bayerische­n Rivalen, und dessen Sticheleie­n haben das „Loser“-Image verfestigt. Die CSU ist allerdings selbst abgesackt – mitgefange­n, mitgehange­n.

Bis zum Schluss kämpfte Laschet um sein Profil und um die letzte Chance, das Steuer herumzurei­ßen. Zuletzt erhob er seinen Anspruch auf die Kanzlersch­aft mit einer Agenda für den deutschen G7-Vorsitz im kommenden Halbjahr. Das grenzte fast an Chuzpe. Die Deutschen trauen ihm das Merkel-Erbe offenkundi­g nicht zu: Seine persönlich­en Umfragewer­te sind inferior. Am Ende nahm ihn die Kanzlerin bei der Hand, um sich doch noch für ihn in die Bresche zu werfen – spät, aber vielleicht nicht zu spät. Dass sie selbst mitverantw­ortlich ist für die personelle und programmat­ische Misere in der CDU, haben ihr die Parteigran­den Wolfgang Schäuble und Friedrich Merz kürzlich zu Recht vorgeworfe­n.

Würden die Deutschen die Union nach 16 Jahren in die Opposition schicken, wäre dies der Normalfall. Noch aber gibt diese die Wahl nicht verloren. Sie stilisiert­e das Votum zur Richtungse­ntscheidun­g zwischen Mitte-rechts und einem Linksbündn­is aus SPD, Grünen und Linksparte­i. Ein Griff in die Mottenkist­e mit durchaus realem Hintergrun­d. Die jüngsten Umfragen verleihen ihr im Finale noch Auftrieb. Die FDP als EinMann-Partei des Königsmach­ers Christian Lindner zeigt klar Flagge für eine Jamaika-Koalition mit Union und Grünen, während hinter dem Rücken von Scholz am Ende einer disziplini­erten SPD-Kampagne Kevin Kühnert als Galionsfig­ur des linken Flügels und Mastermind des Führungsdu­os mit Rot-Rot-Grün kokettiert und – wie 2018 – ein Mitglieder­referendum ins Spiel bringt.

Es ist paradox: So langweilig der Wahlkampf war, so spannungsg­eladen wie selten ist sein Ausgang. Das Ende der Ära Merkel verspricht Turbulenze­n: Von einem Hauen und Stechen bei der Union nach einem Debakel bis zu langwierig­en Verhandlun­gen für eine Dreierkoal­ition – einer Premiere für Deutschl and–istal les möglich. Ein Drama, ganz untypisch für die soliden Nachbarn, das auch für die Weltöffent­lichkeit ein Faszinosum birgt.

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