So richtig spannend wird es in Deutschland erst nach der Wahl
Das Ende der Ära Merkel verspricht Turbulenzen. Europa verliert einen Stabilitätsanker. Es ist völlig offen, wie es nach der Wahl weitergeht.
Diesmal handel te s sich ausnahmsweise nicht um eine Übertreibung, wenn davon die Rede ist, dass Europa und die halbe Welt am Sonntagabend nach Berlin blicken werden. Dass eine Führungsfigur bald, womöglich aber nicht vor Weihnachten, von der Bühne abtreten wird, ist nicht nur für Wien und Brüssel von eminenter Bedeutung, sondern auch für Washington, Moskau und Peking. Wer Angela Merkels Nachfolge im mächtigsten Land Europas antreten und ob die Kanzlerin ein Vakuum hinterlassen wird, ist längst Thema in den Staats- und Regierungskanzleien. Umso mehr, da sich Deutschland in den Monaten des Wahlkampfs von der Welt- und Europapolitik verabschiedet hat, um mehr oder weniger um sich selbst zu kreisen und Banalitäten aufzuwirbeln.
In der Endphase der Wahlkampagne trat das Bild der Kandidaten und Kandidatinnen von Deutschland und seiner Zukunft in einer Welt im Umbruch indessen doch deutlicher zutage. Endlich kam im TV-Septett der Elefantenrunde auch die Außenpolitik zu Ehren. Berlin kann sich künftig nicht mehr hinter Merkel als „Mutti“und Moderatorin verstecken und muss mit Paris den Motor anwerfen.
Nach einem irrwitzigen Auf und Ab spitzte sich der Kampf um die Kanzlerschaft zu einem Duell zu. Der Hanseat Olaf Scholz gefällt sich in seiner Rolle als Merkel-Erbe mit Raute und ruhiger Hand, der als Kapitän das Regierungsschiff in schwerer See zu steuern weiß. Zugleich holte er die totgesagte SPD – ein Mirakel – aus der Versenkung. Scholz profitiert unter anderem davon, dass keine richtige Wechselstimmung herrscht und die nominell stärksten Gegenkandidaten auf der Strecke blieben: Markus Söder in der Union und Robert Habeck bei den Grünen.
Armin Laschet dagegen, als Aachener habituell ein überzeugter Europäer, wirkte überfordert und war ohne Fortüne. In einem schlingernden Wahlkampf hat der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, dem einwohner- und einflussreichsten Bundesland, nie recht Tritt gefasst und zuweilen gar Mitleid erregt. Angeschlagen und ohne Amtsbonus war er ins Rennen gegangen. Der Machtkampf mit Söder, seinem bayerischen Rivalen, und dessen Sticheleien haben das „Loser“-Image verfestigt. Die CSU ist allerdings selbst abgesackt – mitgefangen, mitgehangen.
Bis zum Schluss kämpfte Laschet um sein Profil und um die letzte Chance, das Steuer herumzureißen. Zuletzt erhob er seinen Anspruch auf die Kanzlerschaft mit einer Agenda für den deutschen G7-Vorsitz im kommenden Halbjahr. Das grenzte fast an Chuzpe. Die Deutschen trauen ihm das Merkel-Erbe offenkundig nicht zu: Seine persönlichen Umfragewerte sind inferior. Am Ende nahm ihn die Kanzlerin bei der Hand, um sich doch noch für ihn in die Bresche zu werfen – spät, aber vielleicht nicht zu spät. Dass sie selbst mitverantwortlich ist für die personelle und programmatische Misere in der CDU, haben ihr die Parteigranden Wolfgang Schäuble und Friedrich Merz kürzlich zu Recht vorgeworfen.
Würden die Deutschen die Union nach 16 Jahren in die Opposition schicken, wäre dies der Normalfall. Noch aber gibt diese die Wahl nicht verloren. Sie stilisierte das Votum zur Richtungsentscheidung zwischen Mitte-rechts und einem Linksbündnis aus SPD, Grünen und Linkspartei. Ein Griff in die Mottenkiste mit durchaus realem Hintergrund. Die jüngsten Umfragen verleihen ihr im Finale noch Auftrieb. Die FDP als EinMann-Partei des Königsmachers Christian Lindner zeigt klar Flagge für eine Jamaika-Koalition mit Union und Grünen, während hinter dem Rücken von Scholz am Ende einer disziplinierten SPD-Kampagne Kevin Kühnert als Galionsfigur des linken Flügels und Mastermind des Führungsduos mit Rot-Rot-Grün kokettiert und – wie 2018 – ein Mitgliederreferendum ins Spiel bringt.
Es ist paradox: So langweilig der Wahlkampf war, so spannungsgeladen wie selten ist sein Ausgang. Das Ende der Ära Merkel verspricht Turbulenzen: Von einem Hauen und Stechen bei der Union nach einem Debakel bis zu langwierigen Verhandlungen für eine Dreierkoalition – einer Premiere für Deutschl and–istal les möglich. Ein Drama, ganz untypisch für die soliden Nachbarn, das auch für die Weltöffentlichkeit ein Faszinosum birgt.