Die tragischen Infektionsweltmeister
Ausgerechnet der einstige Covid-Impfvorreiter weist derzeit die höchste Sieben-Tage-Inzidenz der Welt auf. Präventivmaßnahmen werden kaum mehr beachtet.
Belgrad. Die Schlangen vor Serbiens überfüllten Covid-Ambulanzen vergrößern sich von Tag zu Tag. Doch Schutzmasken sind selbst in vollen Autobussen immer weniger zu sichten. Die Zahl der Infizierten und Todesopfer steige unaufhörlich, gleichzeitig sei bei Feiern, Konzerten und Fußballspielen „alles erlaubt“, umschreibt die Zeitung „Blic“die widersprüchliche Lage. Mit 673,6 weist Serbien derzeit noch vor den Seychellen die weltweit höchste Sieben-Tage-Inzidenz auf. Unter den Toten und Schwererkrankten finden sich immer mehr junge ungeimpfte Serben: Selbst unter den Studenten ist nur jeder fünfte geimpft.
Als Rückkehr „heidnischer Riten“bezeichnet Veselin Bojat, der Direktor des Gesundheitszentrums in Novi Sad, Großhochzeiten mit 300 bis 500 Gästen, bei denen lebensgefährliche Infektionen leichtfertig in Kauf genommen würden: „Als ob wir Corona bewusst ein Opfer
bringen.“Vermehrt räumen regierungsnahe Boulevardmedien Impfgegnern breiten Raum ein. Gleichzeitig sehen sich kritische Epidemiologen, die zur Vorsicht mahnen, immer häufiger anonymen Todesdrohungen ausgesetzt. „Der Staat schützt die Impfgegner, während die Leute sterben“, titelt verbittert die regierungskritische Zeitung „Nova“.
Vierte Welle rauscht durch
Dabei hatte sich der EU-Anwärter zu Jahresbeginn noch wochenlang als Impfvorreiter gefeiert. Dank chinesischer und russischer ImpfstoffMorgengaben kamen die Massenimpfungen in Serbien im Frühjahr schneller als in den meisten EUStaaten in Gang. Inzwischen liegt der Anteil derjenigen Serben, die sich mindestens einmal haben impfen lassen, mit nur 44 Prozent der Bevölkerung weit unter dem EU-Durchschnitt (66 Prozent).
Mit der tief sitzenden Impfskepsis allein ist Serbiens Wandlung zum Infektionsweltmeister indes kaum zu erklären – schließlich weisen dessen EU-Nachbarn Bulgarien (16 Prozent) und Rumänien (28 Prozent) noch geringere Impfquoten auf. Doch während etwa die Regierung in Kroatien (44 Prozent) mit Blick auf den für den Küstenstaat lebenswichtigen Tourismus den ganzen Sommer auf die strikte Einhaltung der Präventivmaßnahmen pochte, lässt Belgrad der vierten Infektionswelle offenbar auch aus politischen Gründen schon seit Wochen freien Lauf.
Nur angedacht, aber nie umgesetzt wurde die Einführung digitaler Covid-Zertifikate als Einlassbedingung bei Großveranstaltungen, oder Coronatests an den Schulen. Stattdessen setzen sich auch Würdenträger bei öffentlichen Auftritten auffällig lax über die kaum mehr beachteten Präventivmaßnahmen hinweg. Ob Regierungsoder Oppositionspolitiker, niemand rufe angesichts der Wahlen im kommenden Jahr seine Anhänger noch zu Impfungen auf, klagt der Virologe Milanko Sˇekler: „Denn dann würden sie die Hälfte ihrer Stimmen riskieren.“