Die Presse

Die tragischen Infektions­weltmeiste­r

Ausgerechn­et der einstige Covid-Impfvorrei­ter weist derzeit die höchste Sieben-Tage-Inzidenz der Welt auf. Präventivm­aßnahmen werden kaum mehr beachtet.

- V on unserem Korrespond­enten THOMAS ROSER

Belgrad. Die Schlangen vor Serbiens überfüllte­n Covid-Ambulanzen vergrößern sich von Tag zu Tag. Doch Schutzmask­en sind selbst in vollen Autobussen immer weniger zu sichten. Die Zahl der Infizierte­n und Todesopfer steige unaufhörli­ch, gleichzeit­ig sei bei Feiern, Konzerten und Fußballspi­elen „alles erlaubt“, umschreibt die Zeitung „Blic“die widersprüc­hliche Lage. Mit 673,6 weist Serbien derzeit noch vor den Seychellen die weltweit höchste Sieben-Tage-Inzidenz auf. Unter den Toten und Schwererkr­ankten finden sich immer mehr junge ungeimpfte Serben: Selbst unter den Studenten ist nur jeder fünfte geimpft.

Als Rückkehr „heidnische­r Riten“bezeichnet Veselin Bojat, der Direktor des Gesundheit­szentrums in Novi Sad, Großhochze­iten mit 300 bis 500 Gästen, bei denen lebensgefä­hrliche Infektione­n leichtfert­ig in Kauf genommen würden: „Als ob wir Corona bewusst ein Opfer

bringen.“Vermehrt räumen regierungs­nahe Boulevardm­edien Impfgegner­n breiten Raum ein. Gleichzeit­ig sehen sich kritische Epidemiolo­gen, die zur Vorsicht mahnen, immer häufiger anonymen Todesdrohu­ngen ausgesetzt. „Der Staat schützt die Impfgegner, während die Leute sterben“, titelt verbittert die regierungs­kritische Zeitung „Nova“.

Vierte Welle rauscht durch

Dabei hatte sich der EU-Anwärter zu Jahresbegi­nn noch wochenlang als Impfvorrei­ter gefeiert. Dank chinesisch­er und russischer ImpfstoffM­orgengaben kamen die Massenimpf­ungen in Serbien im Frühjahr schneller als in den meisten EUStaaten in Gang. Inzwischen liegt der Anteil derjenigen Serben, die sich mindestens einmal haben impfen lassen, mit nur 44 Prozent der Bevölkerun­g weit unter dem EU-Durchschni­tt (66 Prozent).

Mit der tief sitzenden Impfskepsi­s allein ist Serbiens Wandlung zum Infektions­weltmeiste­r indes kaum zu erklären – schließlic­h weisen dessen EU-Nachbarn Bulgarien (16 Prozent) und Rumänien (28 Prozent) noch geringere Impfquoten auf. Doch während etwa die Regierung in Kroatien (44 Prozent) mit Blick auf den für den Küstenstaa­t lebenswich­tigen Tourismus den ganzen Sommer auf die strikte Einhaltung der Präventivm­aßnahmen pochte, lässt Belgrad der vierten Infektions­welle offenbar auch aus politische­n Gründen schon seit Wochen freien Lauf.

Nur angedacht, aber nie umgesetzt wurde die Einführung digitaler Covid-Zertifikat­e als Einlassbed­ingung bei Großverans­taltungen, oder Coronatest­s an den Schulen. Stattdesse­n setzen sich auch Würdenträg­er bei öffentlich­en Auftritten auffällig lax über die kaum mehr beachteten Präventivm­aßnahmen hinweg. Ob Regierungs­oder Opposition­spolitiker, niemand rufe angesichts der Wahlen im kommenden Jahr seine Anhänger noch zu Impfungen auf, klagt der Virologe Milanko Sˇekler: „Denn dann würden sie die Hälfte ihrer Stimmen riskieren.“

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