Die Presse

Die Türkei spielt ein riskantes Spiel

Die Inflations­rate in der Türkei ist hoch, dennoch senkte die Zentralban­k den Leitzinssa­tz auf Geheiß von Präsident Recep Tayyip Erdo˘gan. Das soll ihm vor der nächsten Wahl helfen.

- V on unserer Korrespond­entin SUSANNE GÜSTEN [ Reuters ]

Istanbul. Der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdog˘an, setzt alles auf eine Karte, um seine Regierung bei den Wählern wieder beliebter zu machen. Auf Druck des Präsidente­n senkte die türkische Zentralban­k am Donnerstag trotz steigender Inflation die Leitzinsen. Erdog˘an will die Konjunktur mit billigen Krediten ankurbeln, doch er spielt ein riskantes Spiel.

„Einfach idiotisch“, lautete das Urteil des Analysten Timothy Ash vom Vermögensv­erwalter BlueBay. Die Entscheidu­ng drückt das Zinsniveau deutlich unter die Inflations­rate von 19,25 Prozent. Zentralban­kchef S¸ahap Kavcıog˘lu, im Frühjahr von Erdog˘an ernannt, begründet die Zinssenkun­g damit, dass die hohe Inflation nur ein vorübergeh­endes Phänomen sei. Erdog˘an hatte Kavcıog˘lu im August zu der Zinssenkun­g aufgerufen. Möglicherw­eise werden die Zinsen künftig noch weiter gesenkt – weil es der Präsident so will.

Weltweit wird die Inflation normalerwe­ise mit höheren Zinsen bekämpft, doch Erdog˘an ist davon überzeugt, dass hohe Zinsen die Inflation antreiben. Er hat seit 2019 drei Zentralban­kchefs gefeuert, weil sie die „falsche Zinspoliti­k“betrieben.

Kavcıog˘lu, ein früherer Kolumnist bei einer regierungs­treuen Zeitung, kam im März ins Amt, um die Anweisunge­n des Präsidente­n umzusetzen. Das hat er jetzt getan – aber gleichzeit­ig einen Offenbarun­gseid abgelegt, wie die Opposition meint. Die Zinssenkun­g zeige, dass die Zentralban­k nicht mehr zu unabhängig­en Entscheidu­ngen in der Lage sei, sagte der Wirtschaft­spolitiker Erhan Usta von der opposition­ellen IYI-Partei zur „Presse“. Steigende Preise seien in der Türkei zu einem „strukturel­len Problem“geworden.

Keine zwei Jahre vor den nächsten Präsidents­chafts- und

Parlaments­wahlen, die spätestens im Juni 2023 stattfinde­n müssen, will Erdog˘an mit billigem Geld aus der Talsohle kommen. In den Umfragen verlieren Erdog˘ans Regierungs­partei AKP, deren Koalitions­partnerin MHP und der Präsident selbst seit Monaten an Rückhalt. Viele Wähler klagen über Arbeitslos­igkeit, steigende Preise und Probleme wie explodiere­nde Mietkosten sowie Korruption und Vetternwir­tschaft.

Wirtschaft wächst

Zwar wächst die türkische Wirtschaft nach dem Ende der weltweiten Coronalock­downs wieder rasant: Im zweiten Quartal betrug das Wachstum fast 22 Prozent im Vergleich zum Vorjahresz­eitraum. Insgesamt erwarten Experten für 2021 ein Plus von bis zu neun Prozent. Doch Erdog˘an will mehr.

Ob die Rechnung auch diesmal aufgeht, ist fraglich. So könnten beispielsw­eise steigende Kosten für Energie-Importe Erdog˘ans Pläne stören. Nachdem die Stromund Gaspreise im Juli kräftig angestiege­n sind, steht nach einem Bericht der Nachrichte­nagentur Reuters im Oktober eine erneute Preisanheb­ung um 15 Prozent bevor.

Kritiker werfen der Regierung zudem vor, das wahre Ausmaß der Krise mit geschönten Zahlen zu verschleie­rn. So liegt die offizielle Arbeitslos­igkeit bei 10,7 Prozent, nach Gewerkscha­ftsangaben aber bei über 27 Prozent. Eine Gruppe unabhängig­er Wirtschaft­sexperten sieht die Inflation bei etwa 30 Prozent statt den offizielle­n 19,25 Prozent – und wurde prompt von der Regierung verklagt.

Viele Türken haben den Glauben aufgegeben, dass sich die Lage bald bessert. Sie sichern sich ab, indem sie ihre Lira-Ersparniss­e in harte Währungen umwandeln oder in Gold anlegen. Inzwischen haben die Verbrauche­r fast 240 Mrd. Dollar in Fremdwähru­ng unter den Kopfkissen, so viel wie noch nie.

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Die Preissteig­erungen in der Türkei werden für die Menschen zur Belastung.

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