Die Presse

Von der Bibel bis zu Biografien: Wir glauben es, weil es schön ist

Literarisc­hes Erzählen als Urbild der Fiktion: Jan Assmann referierte über die Macht der Geschichte­n in der Religion. Thomas Strässle verriet Tricks der Fake-News-Produzente­n. Und Daniela Strigl erklärte, wie man gewissenha­ft über das Leben der anderen sc

- VON KARL GAULHOFER

Im Anfang war das Wort. Nein, ganz verkehrt: Am Anfang standen vergöttlic­hte Naturgewal­ten, Opferkulte, Tempel und Bildnisse – Symbole also, ohne die keine Religion auskommt. Die Menschen wussten, dass ihr Bild nicht der Gott selbst war. Aber das Judentum verwarf den „Götzendien­st“, verbannte die Bilder – und gründete sich auf Worte in Schriftrol­len, die sich auch ohne Tempel transporti­eren ließen, ins Exil oder die Diaspora. Aber weil ihre Offenbarun­g eine große Erzählung ist, blühten die Fiktionen in noch grandioser­en sprachlich­en Bildern auf: vom gespaltene­n Meer, dem brennenden Dornbusch, dem goldenen Kalb.

Fiktionen freilich, die in die Realität zurückspie­lten. Oft auf gewalttäti­ge Weise, im Christentu­m und im Islam, die sich später anschlosse­n. Aber als die aufgeklärt­e Religionsk­ritik das unheilvoll­e Potenzial des Absoluthei­tsanspruch­s eindämmen wollte, griff auch sie zu Erzählunge­n, von denen Lessings Ringparabe­l nur die schönste ist.

Diesen großen Bogen spannte der deutsche Religionsg­elehrte Jan Assmann im Eröffnungs­vortrag zum Philosophi­cum Lech am Donnerstag­abend. Am Freitag wurde es beim Zürcher Literaturw­issenschaf­tler Thomas Strässle aktuell und politisch: Fake News als Lügen mit verheerend­en Folgen. Kann die Erzähltheo­rie da weiterhelf­en? Sie hat ja – „eine Katastroph­e“– nicht einmal klare Kriterien, um Fakten und Fiktion zu unterschei­den. Womit Autoren gern ihr Spiel treiben. Wie Wolfgang Hildesheim­er, der eine augenschei­nlich skrupulös recherchie­rte, genau ins historisch­e Umfeld eingefügte Biografie über Andrew Marbot schrieb, der die Psychoanal­yse 100 Jahre vor Freud erfand – aber leider nie existierte.

Lügende Politiker freilich wollen ihr Publikum nicht ästhetisch verblüffen, sondern eine realere Wirkung erzielen. Und dagegen helfe nicht nur der „Faktenchec­k“, meint

Strässle, sondern auch die Analyse der Methoden: Die Lüge muss auf Vorwissen der Belogenen aufbauen, auf Vermutung und Verdacht. Sie muss plausibel sein, auf Applaus drängen. Es braucht einen geteilten Hintergrun­d, einen Konsens, auch von Gefühlen und Einstellun­gen. Ein Beispiel: Hält eine große Mehrheit der US-Teenager „G7“für das neue Smartphone von Google? Wir würden das gern kichernd glauben, weil es in unser Bild passt – aber es ist falsch.

Jeder konstruier­t seine Ich-Legende

Weil seine Disziplin die Tricks der Geschichte­nerzähler so gut kennt, hofft Strässle auf eine neue, politische Funktion: die Kontrolle der Mächtigen. Die Germaniste­n tun sich freilich selbst schwer, Fakten von Fiktion zu trennen, auch beim besten Willen. Vor allem, wenn sie Biografien schreiben, wie Daniela Strigl über Marie von Ebner-Eschenbach und Marlen Haushofer. Ein „geschriebe­nes Leben“, kann das gelingen? Immer müssen sich verstreute Fakten zur Erzählung fügen, Fragmente zum Ganzen, das nie deckungsgl­eich mit der Realität sein kann.

Zumal auch Selbstzeug­nisse nicht weiterhelf­en: Jeder konstruier­t seine eigene IchLegende, weil wir ohne konsistent­es Bild von uns nicht leben können. Strigl sieht ihre Aufgabe so: Die Biografin soll das Selbstbild der porträtier­ten Person für bare Münze nehmen, die Maske für eine zweite Haut, und dahinter nicht nach einem verborgene­n Wesen fahnden. Wenn sie aus dem Material empathisch ein Charakterb­ild erkennt, soll sie es nicht ignorieren, aber für neue Funde offen halten. Ganz gehe das nie auf, am Ende lasse es sich doch nur künstleris­ch lösen. Sofern man von Kunst sprechen kann, zumal bei den so zweifelhaf­ten Autobiogra­fien. Damit bleibt: „Ich werde lieber von Canetti belogen als von einem Politiker.“

Wir lesen vom Leben anderer, als ob es wahr wäre. Und die Fiktion hat umso mehr Macht über uns, je schöner sie ist.

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