Die Angst vor einem „neuen sozialdemokratischen Moment“
Eine Bundestagswahl wie keine andere zuvor. Danach werden sich viele an Angela Merkel abarbeiten, statt kühl zu analysieren. Österreich sollte sich zurückhalten.
Wie immer die Wahl am Sonntag ausgeht in . . . nein, nicht in Graz, nicht in Oberösterreich. Obwohl, das muss man sich auch zu Gemüte führen: Zwei Männer streiten und der Chef einer parlamentarischen Partei kündigt mitten in einer Krise eine „persönliche Erklärung“an. Alle halten den Atem an: Geimpft oder nicht geimpft, das war die Frage. Solche Ereignisse machen das Alleinstellungsmerkmal Österreichs aus. Geht’s noch kindischer?
Aber zurück zum Start: Wie immer die Wahl in Deutschland ausgeht, welche Koalition immer danach realistisch sein wird, etliche, wenn nicht sogar die meisten, Kommentatoren werden sich an der scheidenden Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) abarbeiten und genüsslich ihre Fehlerliste präsentieren. Ganz oben wird ihr berühmter Satz „Wir schaffen das“aus der Zeit des Flüchtlingsdramas 2015 stehen. Wolfgang Schüssel und der ehemalige EU-Kommissionspräsident
Jean Claude Juncker rückten das jüngst in Interviews zurecht. Schüssels Gegenfrage: „Hätte sie sagen sollen: Wir schaffen das nicht?“In den vergangenen sechs Jahren war nur von Merkels Fehler die Rede, nie davon, was dies für Österreich bedeutet hätte. Juncker attestierte Merkel vor einer Woche im „Kurier“die Fähigkeit, die Dinge „vom Ende her“anzudenken. Eine Fähigkeit, die in der österreichischen Politik meist unterentwickelt war und ist.
Hätte Merkel es damals nicht angekündigt, hätte – so Juncker – Deutschland die Grenzen geschlossen, die bewaffnete Bundespolizei dorthin geschickt und Österreich so zur Aufnahme der Flüchtlinge gezwungen, denn die waren bereits an die Grenze transportiert worden. Zurückhaltung in Österreich wäre also angebracht, selbst wenn die Union in den kommenden Monaten das Kanzleramt in Berlin verlieren sollte.
Zurückhaltung wird es aber nicht geben, sollte die SPD mit dem Ad-hoc-Favoriten Olaf Scholz stärkste Partei werden: Merkel wird schuld an einem Linksruck und daran sein, dass die eigentlich schon totgesagte Sozialdemokratie selbst im wichtigsten EU-Land ein unerwartetes Lebenszeichen von sich gibt. Eben nicht nur wie jüngst bei der Wahl in Norwegen oder überhaupt in den skandinavischen Ländern. Dann werden in Kommentaren die Schreckgespenster der Vergangenheit hervorgeholt, wie ja auch schon bei Straßenbefragungen in Deutschland in den vergangenen Tagen hörbar wurde: Da war vom real existierenden Sozialismus in der DDR, gar von Kommunismus die Rede, ganz so als würden überraschende Wahlergebnisse einen Freibrief für Angriffe auf intellektuelle Redlichkeit und Differenzierung ausstellen. In den USA hat die Verwirrung der Begriffe Tradition und entfaltet dort auch politische Wirkung. Auch deshalb hat Ex-Präsident Donald Trump immer wieder vor dem Kommunismus gewarnt, der bei einem Wahlsieg der Demokraten drohe. Vielleicht sollte man zur Beruhigung einen Beitrag des US-Journalisten E. J. Dionne Jr. lesen, in dem er sich auch auf Scholz bezieht: „Wir leben in einem neuen sozialdemokratischen Moment“Wunschdenken oder treffende Analyse? In der Covid-Krise, so argumentiert er, habe sich gezeigt, dass die Marktwirtschaft nur gemeinsam mit einem starken sozialen System auf der Basis einer Leistungsgesellschaft mit Chancen für viele funktioniere.
Darüber kann man doch auch in Europa nach den Erfahrungen der letzten 18 Monate ohne Panik nachdenken: Nie war in den vergangenen Jahren der Ruf nach der Rolle des Staates, nach seiner Intervention, nach seinem Sicherheitsnetz lauter als jetzt.
In einem Gastbeitrag auf diesen Seiten hat die ehemalige Mitarbeiterin von Wolfgang Schüssel, Heidi Glück, von den „linken Marken“geschrieben. Was bitte ist an „fairen Mieten“, „sicheren Arbeitsplätze“und „Pensionen“links?
Statt am Montag zu hyperventilieren und Merkel mit Vorwürfen zu überschütten, sollte man kühl analysieren.
Zur Autorin: Anneliese Rohrer ist Journalistin in Wien. diepresse.com/rohrer
Nie war in den vergangenen Jahren der Ruf nach der Rolle des Staates (. . .), nach seinem Sicherheitsnetz lauter als jetzt.
Am Montag in „Quergeschrieben“: Gudula Walterskirchen