Die Gipfelstürmer
Wenn Forschung so abstrakt ist, dass sie sich schwer in Worte fassen lässt, dann helfen bildhafte Vergleiche. Für Informatiker ist es ein „Gipfelsieg“, wenn ein Algorithmus automatisch die beste Lösung findet.
Hans-Georg Beyer schwärmt davon, wie man die höchste Bergspitze in einer Landschaft auch ohne Karte findet. Das tut er weniger aus Naturverbundenheit und Abenteuerlust, sondern vielmehr, um seinem Zuhörer einen anschaulichen Eindruck davon zu vermitteln, woran er forscht. Beyer ist Informatiker, nicht Alpinist. Seine Suche gilt nicht dem Edelweiß, sondern Algorithmen. Für ihn ist es ein Gipfelsieg, wenn er jene Berechnungsmethode ermittelt hat, die automatisch die beste Lösung für schwierige Probleme findet. Der Weg dorthin mag freilich ebenso steinig sein wie jener des Kletterers im freien Gelände.
„Eigentlich ist er noch viel komplizierter“, sagt Beyer, der am Forschungszentrum Business Informatics der Fachhochschule Vorarlberg ein vom Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF gefördertes Projekt zur Entwicklung von Optimierungsalgorithmen leitet. Denn die Probleme, die seine Berechnungsverfahren lösen sollen, sind „hochdimensional“. Das bedeutet? Für den Wanderer spielen nur zwei Faktoren eine Rolle, die Richtung und die Länge des Weges. Die Probleme, die die Computer lösen sollen, müssen hingegen weit mehr Faktoren berücksichtigen.
Lernfehler minimieren
Bei der Materialentwicklung kann es etwa darum gehen, für eine Legierung mit speziellen Eigenschaften
die richtigen Mischverhältnisse zu eruieren. In der Energiewirtschaft gilt es beispielsweise, Windparks so einzurichten, dass die Luftbewegungen von den einzelnen Windrädern für eine maximale Energiegewinnung bestmöglich erfasst werden. „Auch bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz spielen Optimierungsverfahren eine wesentliche Rolle“, ergänzt Beyer. „Da versucht man, die Lernfehler mittels geeigneter Algorithmen zu minimieren.“
Je mehr Dimensionen zu berücksichtigen sind, desto höher ist der Aufwand. Beyer: „Der Wanderer auf der Suche nach dem höchsten Gipfel kann natürlich von unterschiedlichen Startpositionen aus immer wieder losmarschieren. Aber er wird mit dieser Strategie sehr lang brauchen.“Bei vielen Problemstellungen steigt der Aufwand noch dazu nicht geradlinig mit der Zahl der zu berücksichtigenden Faktoren, sondern exponentiell und damit rasch bis ins Unermessliche. „Da gibt es keine Chance mehr, alle Einzelfälle durchzuspielen.“
Die Natur dient als Vorbild
Um trotzdem ans Ziel zu gelangen, haben sich die Informatiker, auch wenn sie beruflich nicht auf Almen unterwegs sind, sondern die meiste Zeit hinter ihren Bildschirmen sitzen, letztlich bei der Natur bedient: Sie benutzen Evolutionsstrategien – also „dieselben Methoden, die sich auch in der Natur bewährt haben, um optimale Ergebnisse wie perfekt angepasste Lebewesen mit maximal empfindlichen Sinnesorganen hervorzubringen“, wie Beyer sagt. Begriffe aus Darwins Theorien wie Mutation und Selektion stehen auch im Mittelpunkt der Überlegungen der Computerwissenschaftler.
Stark vereinfacht gesagt, sind nachfolgende Generationen demnach veränderte Kopien, also Mutationen, ihrer Vorfahren. Nur Änderungen, die eine Verbesserung bedeuten, werden weiterentwickelt. In ähnlicher Weise bauen die Informatiker Mutationen in ihre Algorithmen ein. Beyer bemüht wieder das Bild vom Wanderer: „Wenn er seinen ursprünglichen Ausgangspunkt mehrfach ändert, also mutiert, kann ihn einer der neuen Wege vielleicht schneller zum höchsten Gipfel führen. Aufgabe der Forscher ist es dabei u. a. herauszufinden, wie viele veränderte Ansätze am besten geeignet sind, um eine jeweilige Aufgabe möglichst perfekt zu lösen, und wie stark die Änderungen sein dürfen. Zu viele und nicht zielführende Ansätze bedeuten einen erhöhten Aufwand, was sich bei Computern in vermehrter Rechenzeit niederschlägt. „Selbstadaptive Strategien“nennen die Wissenschaftler solche Verfahren, die den Optimierungsprozess selbst optimieren.
Der Weg bleibt mühsam
Die Krux an der Sache: „Der Wanderer wird immer nur sagen können, dass er die bisher höchste Bergspitze erreicht hat. Er weiß aber nie, ob es dahinter nicht eine noch höhere gibt. Er findet also stets nur das lokale Optimum und vielleicht nie das globale.“
Auch den Computerwissenschaftlern bleibt dieser Gipfel der Gefühle verwehrt. Klassische mathematische Verfahren seien auf der Suche nach dem „globalen Optimum“, also der besten aller Lösungen, ohnedies zum Scheitern verurteilt, stellt Beyer fest. „Mit Algorithmen auf Basis von Evolutionsstrategien haben wir zumindest eine hohe Wahrscheinlichkeit, diese eine Lösung zu finden. Gewissheit freilich haben auch wir nicht.“Der Weg zum Gipfelkreuz bleibt also mühsam.
LEXIKON
Optimierung nennt sich jenes Gebiet der angewandten Mathematik und der Informatik, in dem über Modellierungen und mithilfe von Algorithmen versucht wird, die besten Lösungen für komplexe Fragestellungen aus allen wissenschaftlichen Disziplinen zu finden. Insbesonders kommen Problemstellungen infrage, in denen mit einer Vielzahl von unbekannten Parametern gearbeitet wird. Damit unterstützt die Optimierung zahlreiche andere Wissenschaftszweige.