Konrad Paul Liessmann: Für einen Moment tun, als ob
gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind, eben so, als ob sein Wille auch an sich selbst und in der theoretischen Philosophie gültig, für frei erklärt würde.“Man muss sich diesen Gedanken auf der Zunge zergehen lassen. Freiheit ist vorab nichts anderes als eine Idee, eine Fiktion, eine Unterstellung.
Es mag nun Wesen geben, denen diese Idee gefällt und die gerne danach handeln. In diesem Moment sind sie tatsächlich frei, es ist genau so, als ob die Freiheit ihres Willens überzeugend nachgewiesen worden wäre. Oder, sehr verkürzt, aber treffend: Wir sind genau dann frei, wenn wir so tun, als ob wir frei wären. Kants Moralphilosophie und sein Kategorischer Imperativ beruhen auf diesem Als-ob, gründen in der Fiktion der Freiheit. Alle damit zusammenhängenden Annahmen haben dieses Als-ob, diese Fiktion zur Voraussetzung: die Würde der Menschen, die Gesinnungsethik, das Konzept einer universalistischen Moral, die Vorstellung, es gäbe so etwas wie moralische Pflichten und Verpflichtungen, die egoistische Interessen übersteigen.
All das, was uns in moralischer Hinsicht bewegt, von der Klimakrise bis Afghanistan, beruht auf einer einfachen Fiktion: Tun wir einfach so, als ob wir Wesen wären, die aus freien Stücken moralisch handeln und deshalb Verantwortung übernehmen können. Wenn je die Kraft und Macht einer Fiktion deutlich wurden, dann hier. Im Gegensatz zu einer heute wieder gerne verbreiteten Ansicht gibt es nämlich keine moralischen Tatsachen oder moralischen Wahrheiten, wohl aber moralische Fiktionen. Wir tun so als ob: als ob es um Gerechtigkeit, Gleichheit, Diversität, Grenzenlosigkeit und Vielfalt ginge – um lediglich die wichtigsten moralischen Fiktionen unserer Zeit zu benennen.
Bei all diesen ethischen Leitbegriffen handelt es sich um keine Beschreibung der Wirklichkeit, sondern um normativ aufgeladene Entwürfe, Vorstellungen, Konstruktionen, die es erlauben, manche Aspekte sozialen Lebens anders zu sehen und vor allem anders zu bewerten. Als Vorannahmen geben diese Fiktionen Auskunft über unsere Interessen, und solange wir uns ihres fiktionalen Charakters bewusst sind, können wir damit gut leben. Prekär wird es, wenn wir die Fiktion mit der Wirklichkeit verwechseln. Dann unterliegen wir einer gefährlichen Illusion. Friedrich Nietzsche hatte noch nicht streng zwischen Illusion und Fiktion unterschieden, wir sollten es tun. Fiktionen sind heuristische Konstruktionen, die unseren Umgang miteinander und den Umgang mit der Welt erleichtern. Illusionär ist die Vorstellung, aus einer Fiktion Wirklichkeit werden zu lassen. Obwohl wir daran schon immer gescheitert sind, können wir davon nicht lassen. Der gerne zitierte Satz, dass Sprache Wirklichkeit schaffe und deshalb Sprache radikal verändert werden muss, um eine andere Welt zu gestalten, ist das jüngste Zeugnis solch einer höchst problematischen Illusion.
Etwas als Fiktion zu erkennen heißt nicht, es in seinem Wert herabzusetzen. Nicht nur im Bereich des Handelns, auch in der Wissenschaft müssen wir allzu oft so tun als ob. Hans Vaihinger spricht von einem „Kunstgriff des Denkens“. Nahezu alle Grundbegriffe der Naturwissenschaften waren für ihn Fiktionen. Damit sind nicht Einbildungen oder ästhetische Entwürfe gemeint (für die Vaihinger den Begriff „Figmente“einführen wollte), sondern zweckdienliche Konstrukte, die später auch wieder aufgegeben werden können. Um bei der Lösung mancher Probleme weiterzukommen, müssen wir mit Annahmen, Fiktionen, Gedankenexperimenten, mitunter sogar bewusst falschen Vorstellungen oder, um einen modernen Begriff zu verwenden, mit Modellen arbeiten. Diese fingierten Konzepte dürfen aber weder mit Hypothesen auf der einen noch mit Illusionen oder Täuschungen auf der anderen Seite verwechselt werden. Hypothesen sind zusammenhängende Erklärungsversuche, die verifiziert oder falsifiziert, in einem umfassenden Sinn also bestätigt werden müssen; Fiktionen stellen sinnreiche Abstraktionen oder Modelle dar, die gerechtfertigt, also justifiziert werden können. Illusionen jedoch erweisen sich als unbegründete Wunschbilder, für die in letzter Instanz ein bedingungsloser Glaube eingefordert wird. Um dies an einem naheliegenden Beispiel zu erläutern: Wer darüber forscht, wie, aus welchen Gründen und in welchem Tempo sich die klimatischen Bedingungen in den letzten 200 Jahren verändert haben, wird Hypothesen dazu formulieren, die letztlich empirisch bestätigt werden müssen.
Wer überlegt, wie sich die Klimaveränderung auf das menschliche Leben in den nächsten 200 Jahren auswirken wird, wird mit Modellen arbeiten, die zwar einen fiktionalen Charakter haben, aber mit guten Gründen in Hinblick auf ihre praktische Relevanz gerechtfertigt werden können; wer verkündet, dass es die eine Lösung dieses Problems gibt, verbreitet eine Illusion, an die geglaubt werden muss.
Die geraubten Illusionen
Sobald wissenschaftliche Diskussionen zu Glaubenskriegen mutieren, hat man in der Regel den Boden der Rationalität verlassen. Hypothesen können widerlegt, Fiktionen kritisiert werden. Ihrer Illusionen hingegen werden die Menschen beraubt. Das macht deren gläubige Anhänger auch so rabiat: Illusionen lässt man sich nur höchst ungern nehmen.
Für alle diese Imaginationen aber gilt, was Friedrich Nietzsche den Einbildungen des Menschen schlechthin zugeschrieben hat: Sie haben sich im und am Leben zu bewähren. Ob wir es zulassen, dass aus der Kraft der Fiktion, dieser ungeheuren Eigenschaft des Menschen, die Realität zu begreifen und ihr seine Vorstellungen entgegenzusetzen, ein ohnmächtiges Gestammel wird, das in panischer Angst vor unzureichenden Termini und verletzenden Formulierungen der Sprache und dem Denken, der Freiheit und der Fantasie selbst Gewalt antut: Das, meine Damen und Herren, liegt ausschließlich an uns. Zumindest sollten wir so tun, als ob es an uns läge.
Sobald wissenschaftliche Diskussionen zu Glaubenskriegen mutieren, hat man in der Regel den Boden der Rationalität verlassen.
QGeboren 1953 in Villach. Philosoph. Essayist, Kulturpublizist. Emeritierter Professor der Universität Wien. Zuletzt erschienen: „Alle Lust will Ewigkeit: Mitternächtliche Versuchungen“(Zsolnay Verlag). Liessmann ist Wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech, das bis 26. Oktober in Lech am Arlberg abgehalten wird. Obige Rede hielt er zum Auftakt des 24. Symposiums.