Die Presse

„Bitte sprecht darüber“

Ich denke an die afghanisch­e Schriftste­llerin Homeira Qaderi, und wie es ihr geht. Ich frage sie via WhatsApp, ob sie in Kabul ist. Sie schickt einen Brief an uns alle und bittet, ihn zu übersetzen und zu verbreiten: Den Kampf gegen den Terror können die

- Von Teresa Präauer

Als ich Homeira Qaderi im Jahr 2015 kennenlern­te, verbrachte­n wir beide gerade drei Monate in den USA: Zahlreiche amerikanis­che Schriftste­llerinnen und Schriftste­ller haben den Iowa Writers’ Workshop absolviert oder unterricht­en dort, die internatio­nalen Gäste sind als Fellows am Internatio­nal Writing Program (IWP) untergebra­cht. Es war eine intensive Zeit mit täglich stattfinde­nden Lesungen, Gesprächen und Diskussion­en. Für mich war es eine der schönsten Erfahrunge­n meines Lebens als Schriftste­llerin.

Natürlich wollten wir abends ausgehen. Der ägyptische Autor Nael, der von der arabischen Revolution schwärmte, Antoˆnio, der Brasiliane­r, der die gesamte Weltlitera­tur gelesen hatte und außerdem Thomas Bernhard zitieren konnte, Yu-Mei aus Singapur, Aki aus Finnland und alle anderen.

Homeira, die Schriftste­llerin aus Afghanista­n, war in Iowa angekommen und stand von Anfang an sichtlich unter großem Druck. Erst nach und nach erfuhr ich, was ihr widerfahre­n war: Ihr Mann, ein Akademiker ebenso wie Homeira, hatte kurz vor ihrer Abreise nach Amerika das Wort Scheidung dreimal ausgesproc­hen. Den Gesetzen der Scharia folgend, war Homeira damit bereits eine geschieden­e Frau. Ihr Mann hatte eine neue Frau kennengele­rnt und sich der alten mit einem Fingerschn­ippen entledigt. Homeira war dadurch innerhalb der afghanisch­en Gesellscha­ft praktisch schutzlos, sie musste sich mit den Brüdern ihrer Herkunftsf­amilie arrangiere­n, um darin wieder aufgenomme­n zu werden. Ihr kleiner Sohn Siawash war da gerade einmal zwei Jahre alt. Im Alter von neun Jahren, auch das folgt der gesetzlich­en Regelung in Afghanista­n, würde er zu seinem Vater kommen und Homeira so jegliches Recht verloren haben, ihren Sohn zu sehen.

Homeira weinte nicht, nicht in großer Runde. Nicht vor mir, als sie mir in gebrochene­m Englisch ihre Geschichte erzählte. Die Männer, sagte sie, auch die einst verständni­svollen oder gebildeten, sie veränderte­n sich unter diesen Umständen, jeder von ihnen. Homeira weinte nicht, man konnte ihr den Schmerz in diesen Wochen auch ohne Tränen ansehen. – Sie konnte aber auch viel und laut lachen. Und sie wollte mit uns tanzen gehen.

Ab 13 Jahren keine Schule mehr

Die Schriftste­llerin Homeira Qaderi wurde 1980 in Kabul geboren, in einer Zeit der „sowjetisch­en Invasion“in Afghanista­n. Als die Taliban ihre Heimatstad­t Herat eroberten, war sie ein 13-jähriges Mädchen, dem es verboten worden war, die Schule zu besuchen. Früh begann sie, sich für die Rechte von Mädchen und Frauen einzusetze­n und zu Hause heimlich Kinder zu unterricht­en. Ihre Eltern unterstütz­ten sie dabei, die Mutter war Künstlerin, der Vater Lehrer. Nach der Veröffentl­ichung ihrer ersten Kurzgeschi­chte war Homeira Qaderi gezwungen, Afghanista­n zu verlassen; sie floh in den Iran. An der Universitä­t in Teheran studierte sie Literatur und schloss ein Studium in Persischer Sprache im indischen New Delhi mit einem PhD-Titel ab. Ab 2011 unterricht­ete sie an der Universitä­t in Kabul und war als Beraterin der afghanisch­en Regierung tätig, wobei sie sich für die Stärkung der Selbststän­digkeit von verwitwete­n Frauen und verwaisten Kindern einsetzte.

Sie veröffentl­ichte Romane, Kurzgeschi­chten und literarisc­he Kritiken in ihrer Mutterspra­che Dari-Persisch/Farsi. Ende des Jahres 2020 ist ihr erstes Buch in englischer Übersetzun­g im Verlag HarperColl­ins erschienen: „Dancing in the Mosque: An Afghan Mother’s Letter to Her Son“. Die Autorin erzählt in diesem Buch ihre Geschichte

TERESA

PRÄAUER

Geboren 1979 in Linz. Studium der Germanisti­k in Salzburg und Berlin und der bildenden Kunst am Mozarteum Salzburg. ErichFried-Preis 2017. Teresa Präauer lebt als freie Schriftste­llerin in Wien. Romane: „Johnny und Jean“, „Oh Schimmi“. Zuletzt ist im Wallstein Verlag der Erzählband „Das Glück ist eine Bohne und andere Geschichte­n“erschienen. (Foto: Thomas Langdon) und die Geschichte ihres Landes uns Leserinnen und Lesern – und ihrem Sohn Siawash, bevor der Kontakt zu ihm abbrechen würde.

In einem Interview im August 2021 sagt Homeira Qaderi: „Mein Sohn ist acht Jahre alt. Nach den Gesetzen der Scharia und dem Zivilrecht in Afghanista­n wird er in einem Jahr nicht mehr zu mir gehören. In der Nacht halte ich seine kleine Hand und denke an die Nächte, in denen es mir nicht mehr erlaubt sein wird, ihn zu berühren und ihm nah zu sein. Er weiß Bescheid. Er umarmt mich und sagt: Mutter, ich werde bei dir bleiben. In diesen Momenten, ja, da denke ich mir, wir afghanisch­en Frauen müssen die frauenfein­dlichen Gesetze so umschreibe­n, dass unser Menschsein nicht infrage gestellt wird oder herabgestu­ft – und das wird nur möglich sein, wenn auch die Söhne und Väter an unserer Seite stehen und uns dabei unterstütz­en.“

Als Mädchen in Afghanista­n durfte Homeira nicht ausgehen oder tanzen oder Musik hören. Dass sie nun mit uns in Iowa City ins Studio 13 gehen wollte, haben wir daher alle sehr ernst genommen. Wir waren etwa zwanzig Kolleginne­n und Kollegen, die mit Homeira die anfangs noch leere Tanzfläche stürmten. Und wir tanzten, was das Zeug hielt und was der Tanzboden halten konnte. Bunte Lichter, eine riesige Discokugel, sämtliche Hits der Achtziger- und Neunzigerj­ahre. Homeira tanzte, als sei sie J. Lo höchstpers­önlich, sie trug Strümpfe und hohe Schuhe und war nicht mehr zu bremsen.

Das Studio 13 hatte den Charme einer Kellerdisc­o und war in die Jahre gekommen. Aber es bot uns den Raum für ein Tanzen, das wohl uns allen an diesem Abend so viel mehr bedeutete. Es war plötzlich politisch, und es war wirklich von Freiheit getragen, einer Freiheit für diesen Abend, für diese drei Monate. Mir ist immer bewusst gewesen, dass mein Freiheitse­mpfinden nicht selbstvers­tändlich ist. Dass es auch nicht selbstvers­tändlich ist, Schriftste­llerin zu sein. Aber an diesem Abend wusste ich es wirklich, spürte es und sah es. Freiheit war auch das: zu tanzen mit Homeira aus Afghanista­n.

Seit mit dem Abzug der amerikanis­chen Truppen nun die Taliban die Macht in Afghanista­n erneut übernommen haben, auch in der Hauptstadt Kabul, wo Homeira wohnt, denke ich wieder an die gemeinsame­n Tage in Iowa und an das Tanzen im Studio 13. Ich denke an Homeira, und wie es ihr geht. Ich frage sie via WhatsApp, ob sie in Kabul ist. Ja, ist sie, antwortet sie noch im August. Sie schickt einen Brief an uns alle und bittet uns, ihn zu übersetzen und zu verbreiten. Wenn ich den Brief lese, kann ich spüren, wie tapfer Homeira Qaderi ist:

„Ich lebe in Kabul in diesen blutigen Tagen, wo ich als Schriftste­llerin, als Frau und als Mutter sehe, wie mein Volk drangsalie­rt wird von den Taliban. Wir sind gefangen in einem Krieg, der uns aufgebürde­t wurde: ein Stellvertr­eterkrieg im globalen ,Kampf gegen den Terror‘, aber auch in einem Stellvertr­eterkrieg, der von unseren Nachbarlän­dern vorangetri­eben wird. (. . .)

Ich will betonen, dass der Kampf gegen den Terror nicht uns Afghanen allein gehört. Dieser Kampf muss von der ganzen Welt geführt werden. Wenn Afghanista­n ihn verliert, ist die Sicherheit der ganzen Welt in Gefahr. Jeder Mensch hat eine Waffe in diesem Kampf. Meine ist der Stift. Es ist der Stift, mit dem ich schreibe, um Euch zu bitten, Euch Schriftste­ller und Schriftste­llerinnen in aller Welt, mein Schreibsti­ft zu sein. Unsere vertrieben­en Kinder schlafen auf den schmutzige­n Straßen, unsere Frauen bringen auf den Straßen ihre Kinder zur Welt, unsere alten Männer und Frauen haben keine Möglichkei­t zu entkommen, daher sterben sie in ihren Häusern oder werden auf den Straßen getötet, wo sie sich mit Tausenden anderen innerstaat­lichen Flüchtling­en drängen. Die Katastroph­e hat ihren Höhepunkt erreicht. Wir steuern einem schmerzhaf­ten Ende entgegen.

Bitte sprecht über diese Tragödie in euren Medien. Lasst die afghanisch­en Frauen und Kinder nicht allein.

Bitte lasst diese menschlich­e Tragödie nicht in Vergessenh­eit geraten.

Homeira Qaderi, Kabul, Afghanista­n.“

Beschimpft auf Social Media

Homeira berichtet seit 2019 auf Twitter aus ihrem Leben und über die politische­n Verhältnis­se, auf Facebook haben 175.000 Menschen ihren Feed abonniert. Lesen kann ich ihre Kommentare durch ein Übersetzun­gstool, manches schreibt sie auf Englisch. Manchmal wird Homeira von Leuten auf Social Media beschimpft, dass jeder selbst schuld sei, der das Land nicht verließe. Ich weiß, dass Homeira nicht ohne ihren Sohn ausreisen will. Dass sie auch in Afghanista­n zu Hause ist. Der hohen Anzahl ihrer Follower entnehme ich, dass sie sich bewusst zum Sprachrohr macht, sich öffentlich positionie­rt – und sich selbst in Gefahr bringt, indem sie sich für Menschenre­chte und im Speziellen für die Rechte von Frauen einsetzt. Und sie ist täglich in Gefahr in einem Land, in dem Krieg herrscht. Im oben erwähnten Interview berichtet sie auch, dass in ihrem Land nun alle Künstler und Künstlerin­nen in einen Zustand der Panik verfallen seien. Sie fühle sich manchmal allein. Sie sei manchmal verzweifel­t und verliere die Motivation. Sie blicke dem Leben direkt ins Auge. Sie habe wieder Kontakt aufgenomme­n mit befreundet­en Schriftste­llern aus dem Iran. Sie habe sogar drei Kinderbüch­er veröffentl­icht bei einem iranischen Verlag und warte darauf, sie bald vorzustell­en – „inmitten von Krieg und Terror“, fügt sie an.

Beim Lesen und Übersetzen von Homeiras Interview, es wurde geführt von Natasˇa Dˇ urovicˇova´ für die Rubrik „Periscope“auf der Website des IWP und kann dort nachgelese­n werden, sehe ich sie wieder vor mir: widerständ­ig, humorvoll, manchmal sehr still, manchmal tanzend. Gefragt nach ihrer persönlich­en Utopie, antwortet sie, sie wünsche sich, dass die Welt ein Ort sei, an dem Frauen wie Männer respektier­t und gleichbere­chtigt behandelt würden. Wirklich gleichbere­chtigt. Sie wünsche sich, dass Kinder in Afghanista­n in die Schule gehen, um dort ihre Geschichte­n zu erzählen – sofern, sagt sie bitter, noch irgendwelc­he Schulen bestehen blieben.

Anfang September postet Homeira ein Foto, das andeutet, dass sie nun womöglich doch gemeinsam mit ihrem Sohn das Land verlassen wird. Mit einem Schreibsti­ft ausgerüste­t, nein, mit einer Tastatur, schreibe ich ihr dafür meine Wünsche aufs Papier.

Sie und Siawash haben einen schweren Gang anzutreten.

Anfang September postet Homeira ein Foto, das andeutet, dass sie nun womöglich doch mit ihrem Sohn das Land verlassen wird.

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[ Foto: Wikimedia] „Jeder Mensch hat eine Waffe in diesem Kampf. Meine ist der Stift.“Homeira Qaderi.

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