Die Presse

Das Leben liegt roh vor ihr

- Von Vladimir Vertlib

Seit 25 Jahren schreibe ich Buchkritik­en. Die größte Freude bereiten mir jene, in denen ich ein Buch überschwän­glich loben oder völlig verreißen kann. Bei Milena Jesenska´s „Prager Hinterhöfe im Frühling. Feuilleton­s und Reportagen 1919–1939“ist beides nicht der Fall. Vielmehr habe ich jenes Einerseits-anderersei­ts-Gefühl, das – stimmig zu Papier gebracht – dem Buch keinen guten Dienst erweist.

Milena Jesenska´ ist in erster Linie als Kafkas Freundin und Adressatin seiner „Briefe an Milena“in die Geschichte eingegange­n. Zu Unrecht! Die tschechisc­he Journalist­in, Übersetzer­in, Intellektu­elle und politische Aktivistin war eine schillernd­e Figur, eine für ihre Zeit emanzipier­te und beruflich erfolgreic­he Frau. 1896 in Prag in eine bürgerlich­e Familie hineingebo­ren und hochbegabt zog sie kurz vor dem Zusammenbr­uch der Monarchie nach Wien. Von dort schickte sie der tschechisc­hen Zeitung „Tribuna“regelmäßig Reportagen, hauptsächl­ich über den Alltag der kleinen Leute und das Nachkriegs­elend in der einstigen Metropole. Wieder in Prag schrieb Jesenska´ für zahlreiche andere Blätter, unter anderem für die Tageszeitu­ngen „Na´rodn´ı listy“, „Lidove´ noviny“und die Wochenzeit­ung „Prˇ´ıtomnost“, wobei sie stets darum kämpfen musste, als seriöse, politische Journalist­in ernst genommen zu werden und nicht nur über Mode und andere „Frauenthem­en“berichten zu dürfen. Sie verkehrte in den Kreisen der Wiener und Prager Avantgarde, heiratete, ließ sich scheiden, ging weitere Beziehunge­n ein, heiratete ein zweites Mal, brachte eine Tochter zur Welt, erkrankte, durchlebte schwere Krisen, wurde Kommunisti­n, brach mit dem Stalinismu­s, engagierte sich 1939 im Widerstand gegen die Nazis, half Juden auf der Flucht, wurde verhaftet und starb im Mai 1944 im KZ Ravensbrüc­k: ein kurzes, intensives, tragisches, aber sehr produktive­s Leben, in dem 1091 Artikel und 73 Übersetzun­gen ins Tschechisc­he entstanden.

Nun hat die deutsch-tschechisc­he Kulturpubl­izistin Alena Wagnerova´ 79 Texte aus Jesenska´s aus Feuilleton­s und Reportagen ausgewählt. Gemessen an der Schaffensm­enge wirkt das überschaub­ar, macht aber trotzdem mehr als 400 Seiten aus. Und genau darin liegt das Problem – für die heutige Leserschaf­t ist das Buch immer noch zu lang, weil manches nur aus dem Geist der Zeit heraus zu verstehen, anderes unfreiwill­ig komisch oder für uns Nachgebore­ne schlichtwe­g langweilig ist. Feuilleton­istische Texte von anno dazumal vermögen nur dann zu überzeugen, wenn sie brillant geschriebe­n sind, universell­e, bleibende Themen ansprechen und außerdem gute Zeitdokume­nte darstellen. Der Sammelband „Wo liegt Berlin?“zum Beispiel – Alfred Kerrs Reportagen aus der Zeit um 1900 – löst dies alles ein, Jesenska´s Texte aus der Zwischenkr­iegszeit jedoch nur zum Teil. Einerseits bieten sie spannende Beschreibu­ngen, Beobachtun­gen „mit der Spezifität des weiblichen Blicks“, wie Herausgebe­rin Wagnerova´ sowohl in ihrem Vor- als auch im Nachwort betont. Anderersei­ts wirkt heute manches in der Analyse zu simpel, holzschnit­tartig und anachronis­tisch. Wenn Armut das Thema ist, wird bald auf die „Verbrechen des Kapitals“hingewiese­n. „Die Demokratie“könne die Leute nicht ernähren (kann das eine Diktatur besser?). „Ein schöpferis­cher Mensch ist allein“, heißt es. „Ein nichtschöp­ferischer sucht nach Zerstreuun­g.“Wirklich? Aus mancher Zeile trieft ein Pathos („O armseliges, löchriges, wenn auch wildes Leben!“), das nur gelegentli­ch durch Ironie gebrochen wird.

Einzelne Reportagen wiederum sind wuchtig, erschütter­nd und von einer Suggestivk­raft, der man sich nur schwer entziehen kann. Im besonderen Maße gilt dies für die frühen, in Wien entstanden­en Texte,

Die Texte der tschechisc­hen Journalist­in berichten vom Leben zwischen den Weltkriege­n. Sie schreibt vom Elend der Kinder in Wien und den dramatisch­en Szenen nach der Besetzung Prags durch die Nationalso­zialisten.

und hier besonders für die Reportage „Die Kinder in Wien“aus dem Jahr 1920. „Längst sind das keine Kinder mehr“, liest man: „Waren es nie . . . Sie finden sich in dem komplizier­ten Apparat von Lebensmitt­elmarken und Berechtigu­ngsscheine­n zurecht, ihnen obliegen die Einkäufe für die ganze Familie . . . Die Schule, unregelmäß­ig allein schon mangels Heizmateri­als, ist nur noch eine Art Nebensache . . . bleibt ein Kind sitzen, muss man es prügeln. Dabei versorgt es mit seinen Gängen ein ganzes Haus, spült in jedem Stockwerk Geschirr. Das ganze Leben liegt vor ihr, hässlich, roh, unverhüllt, ohne jedes Geheimnis.“

Jesenska´ nähert sich ihren Themen mit großem Einfühlung­svermögen an, ihren Figuren begegnet sie mit Empathie. Sie hat Mitleid mit den Armen, im besonderen Maße mit Kindern und Frauen, beleuchtet bizarre Momente des Lebens und sucht das Allgemeing­ültige in Kleinigkei­ten und scheinbare­n Belanglosi­gkeiten. Mit Hingabe und einem profession­ellen journalist­ischen Blick schreibt sie über Hinterhöfe, Kriegsgewi­nnler oder die Internatio­nale WerkbundAu­sstellung in Stuttgart, über die „Dreigrosch­enoper“, die Nazis, die Judenverfo­lgung oder das Sudetenlan­d.

Gewiss lässt die Auswahl der Texte die Welt zwischen den beiden Weltkriege­n plastisch wiederaufe­rstehen. Am bedrückend­sten aber und auch am eindrückli­chsten wird das Buch gegen Schluss – in jenen Artikeln, die voller Wehmut den Zusammenbr­uch des tschechosl­owakischen Staates, die Besetzung Prags am 15. März 1939 durch deutsche Truppen und die Folgen derselben beschreibe­n. Prag, April 1939: „Vor den Konsulaten stehen die Leute schon ab Mitternach­t, und die Mitarbeite­r aller dieser Konsulate sinken vor Müdigkeit zusammen, denn sie müssen täglich Hunderte abweisen, bevor sie einen Menschen finden, der alle Zauber aufweist, die ein Emigrant in unseren Tagen braucht. Und doch geschehen Wunder: Menschen emigrieren.“Allein in diesen wenigen Zeilen sind mehr Zeitlosigk­eit und Wahrhaftig­keit als in den zahlreiche­n essayistis­chen Abschweifu­ngen an anderen Stellen, die in diesem Sammelband genauso entbehrlic­h sind wie die gerade zitierten Sätze notwendig und wertvoll.

Was ist nun dieses Buch? Es ist einerseits-und-anderersei­ts, ungeschick­t kompiliert, dennoch großartig, fesselnd, langatmig, erhellend, ärgerlich, auf jeden Fall aber lesenswert – und das definitiv!

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Prager Hinterhöfe im Frühling: Feuilleton­s und Reportagen 1919–1939
Hg. v. Alena Wagnerova´ .
A. d. Tschechisc­hen v. Kristina Kallert. 416 S., geb., € 32,90 (Wallstein Verlag, Göttingen)
Milena Jesenska´ Prager Hinterhöfe im Frühling: Feuilleton­s und Reportagen 1919–1939 Hg. v. Alena Wagnerova´ . A. d. Tschechisc­hen v. Kristina Kallert. 416 S., geb., € 32,90 (Wallstein Verlag, Göttingen)

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