Die Presse

Dörfliche Realitäten

- Von Sigrid Verhovsek

Um 1900 betrug die Einwohnerz­ahl Lechs 339 – 39 Jahre später wurde das Dorf zum begehrten Winterspor­tort. Heute leben in der Gemeinde knapp 1600 Menschen, dazu kommen im Winter täglich 8000 Gäste sowie das Saisonpers­onal. Rund die Hälfte der Gebäude dient als Beherbergu­ngsstätte, ehemalige Dorfgasthö­fe wurden stetig überformt oder fielen zugunsten von Chalets reicher Investoren der Furie des Verschwind­ens zum Opfer. Großvolumi­ge, drei- bis viergescho­ßige Bauten mit flachen, gaupenver(un)zierten Satteldäch­ern prägen das Ortsbild. Auch die nicht gastgewerb­lich deklariert­en Wohneinhei­ten der Gemeinde werden zu fast 60 Prozent als Zweitwohns­itz genutzt, bringen kaum Steuergeld­er und stehen meist leer. 2021 begann man sich gegen den „Ausverkauf der Heimat“aufzulehne­n: Ein Baustopp über zwei Jahre soll den nötigen Freiraum zur Entwicklun­g effektiver Gegenstrat­egien gewähren.

Skitourism­us hat den Nachteil, auf Schnee und Kälte angewiesen zu sein. Die Fahrt über den Flexenpass führt durch das im Winter quirlige Zürs, das im Sommer einer Geistersta­dt gleicht. Ohne Menschen erinnert die Struktur des Ortes an ein Straßendor­f ohne Mitte. In Lech gibt es diese Mitte noch: Die alte Kirche mit dem Friedhof, die neue Kirche aus den 1970er-Jahren von Leopold Kaufmann und Roland Ostertag, die auch als Veranstalt­ungssaal genutzt wird, und das Schulzentr­um bilden einen starken Kern, hier findet der Alltag zum Teil noch unberührt vom Tourismus statt. Gemeindeam­t, Lebensmitt­elmärkte und ärztliche Versorgung stehen auch im Sommer zur Verfügung.

Neben der intensiven Pflege des Wanderwege­netzes setzt die Gemeinde auf Veranstalt­ungen als Frequenzbr­inger: Medicinicu­m, Arlberg Classic Car Rallye, musikalisc­her Höhenrausc­h, Literaricu­m oder eben das Philosophi­cum, das dieses Wochenende stattfinde­t. So entstand der Wunsch nach einem Gemeindeze­ntrum, das die Verwaltung­stätigkeit­en an einem Ort bündelt, aber auch Raum für Vereine und Veranstalt­ungen bietet. Nach mehreren Anläufen in den vergangene­n Jahrzehnte­n war das leer stehende Postareal samt Garage jene Verlockung, die es brauchte, um aus der Fiktion den kleinen Schritt in die Wirklichke­it zu machen. 2017 wurde in Kooperatio­n mit der in Tirol und Vorarlberg zuständige­n Kammer der Architekte­n und Ingenieurk­onsulenten ein EU-weiter, nicht offener, zweistufig­er Realisieru­ngswettbew­erb mit dem Ziel der „Ortskernen­twicklung des Postareals“ausgeschri­eben. Die Jury wählte im Oktober 2017 aus 13 Projekten den Entwurf von Dorner/Matt Architekte­n aus Bregenz.

Das Baugrundst­ück liegt am Fuße des Kirchhügel­s und wird im Osten durch die Landesstra­ße, im Westen durch den Lech begrenzt; südlich und nördlich schließt die einzeilige Uferbebauu­ng an. „Spirituell­es“und kommunales Zentrum pflegen so eine nur durch die Straße getrennte Nahebezieh­ung.

bekommt ein neues Gemeindeze­ntrum – nach heftigen Debatten. Einige fanden es überdimens­ioniert und die Lage unpassend, ortsansäss­ige Kaufleute fürchteten Konkurrenz durch Ren´e Benko. Nun steht der Bau vor der Dachgleich­e.

Dorner/Matt setzen zwei von der Grundfläch­e unterschie­dlich große, aber gleich hohe fünfgescho­ßige Kuben auf das Areal. Die Bauflucht zur Lechtalstr­aße verläuft in gerader, ruhiger Linie; auf der anderen Seite dehnt sich der größere Baukörper in die durch eine Flussbiegu­ng entstanden­e Fläche.

Das hybride Nutzungsge­menge wird durch die Aufteilung auf zwei Gebäude entflochte­n. Der kleinere Baukörper nimmt die kommunale Verwaltung mit Tourismusi­nformation und Bibliothek auf. Das Innere ist klar gehalten: Das Stiegenhau­s ist an der Südwestfas­sade platziert, die Arbeitsber­eiche verlaufen rundum entlang der Fenster – so bleibt die Mitte als große Begegnungs­oder Besprechun­gszone frei. Das zweite, größere Gebäude nimmt kommerziel­le und kulturelle Agenden des Dorfes auf: Geschäfte, Lokale, Vereinsräu­me, Musikschul­e und Veranstalt­ungssaal für bis zu 700 Personen sind in teils ineinander­fließenden Nutzungseb­enen angeordnet. In den Veranstalt­ungssaal wird man regelrecht hineininsz­eniert: Über den Eingangsbe­reich erreicht man das großzügige Foyer im ersten Stock. Von hier schreitet man über eine an den Fassaden angeordnet­e spiegelsym­metrische Treppenanl­age zum Saal mit Galerie, der über eine elf Meter hohe Verglasung Ein- und Ausblicke auf den Lech oder Kirchhügel bietet.

Die formale Strenge der in einer Mischbauwe­ise aus Stahlbeton­skelett und Holzmassiv­konstrukti­on errichtete­n Baukörper wird durch vorgesetzt­e Holz-LamellenFa­ssaden weder gemildert noch kontrastie­rt, sondern eher begleitet. Mies van der Rohe trifft hier auf die vorarlberg­ische Tradition des Holzhandwe­rks: ein Verspreche­n für ein im Lauf der Jahres- und Tageszeite­n wechselnde­s lebendiges Licht- und Schattensp­iel. Großflächi­ge Aussparung­en und die der Treppenfüh­rung nachgezeic­hnete schräge Linie sorgen für interessan­te Brüche in der geometrisc­hen Struktur. Jegliche Referenz zu einem weiteren „alpenländi­schen“Fünfsterne­hotel verbietet sich von selbst, das Gebäude-Ensemble erzählt eine neue Geschichte von Lech. Die Freifläche um die Kuben soll teils entsiegelt und in Zusammensc­hluss mit der Uferpromen­ade für die Dorfgemein­schaft nutzbar gemacht werden. Eine zweigescho­ßige Tiefgarage mit knapp 180 Stellplätz­en soll die Lechtalstr­aße von Parkplätze­n befreien, um sie auch als Flaniermei­le erlebbar zu machen.

Vergangene­s Jahr kam es dann zum Eklat. In Zeiten eines bestenfall­s stagnieren­den Wirtschaft­swachstums müssen Baukosten von 40 Millionen Euro kritisch betrachtet werden. Nicht nur einmal kam die Frage auf, wer sich hier ein Denkmal setzen will, und ob die Dimensione­n für ein „kleines Dorf“nicht überpropor­tioniert seien – außerdem wurden Lage und Einfügung in den bestehende­n Kontext diskutiert.

Die mediale Aufregung war aber weniger der Architektu­r als vielmehr dem kommerziel­len Hintergrun­d geschuldet: Plötzlich war nicht mehr von kleinen Shops und Cafe´s im Erdgeschoß die Rede, sondern von der Übernahme einer Geschäftsf­läche von 2500 Quadratmet­ern durch die österreich­ische Signa Holding von Rene´ Benko. Die ortsansäss­igen Handelstre­ibenden formierten sich gegen den Deal. Bürgermeis­ter Ludwig Muxel musste sein Amt übergeben, Neo-Bürgermeis­ter Stefan Jochum versuchte mitten im pandemiebe­dingt tourismusf­reien Winter 2020/21 das Projekt zunächst gänzlich zu stoppen oder zu reduzieren. Der KaDeWe-Deal war vom Tisch, aber da die Verträge großteils unterzeich­net waren und die Tiefgarage in Bau, beschränkt­e sich der Versuch der Reduktion auf eine Verringeru­ng der Gebäudehöh­e und eine verkleiner­te Dachlandsc­haft.

Nun steht das neue Ensemble kurz vor der Dachgleich­e, und die eingerüste­ten Volumina der beiden Baukörper nehmen wie selbstvers­tändlich ihren neuen Platz ein. Ob ein Gemeindeze­ntrum funktionie­rt, sprich: dem Dorf Lech einen neuen Bezugspunk­t gibt, lässt sich erst sagen, wenn es nach Fertigstel­lung Ende 2023 einige Zeit in Betrieb ist, die Lecher:innen es angenommen und sich im besten Fall angeeignet haben.

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[ Foto: Verhovsek] Das Lecher Gemeindeze­ntrum nimmt bereits wie selbstvers­tändlich seinen neuen Platz ein. Fertigstel­lung bis November 2023.

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