Nach dieser Wahl kommen Monate des Stillstands auf Deutschland zu
Nach dem unklaren Wahlergebnis steuert Deutschland auf zähe Koalitionsverhandlungen zu. Neue Impulse sind nur von FDP und Grünen zu erwarten.
Wirklich deutlich war dieses Votum nicht. Union und SPD lagen am Wahlabend eng beieinander. Doch eines stand schon früh fest. Die Konservativen fuhren unter ihrem glücklosen Kanzlerkandidaten, Armin Laschet, das schlechteste Ergebnis aller Zeiten ein. Olaf Scholz hingegen hat die SPD zu einem Wahlergebnis geführt, das vor zwei Monaten noch niemand für möglich gehalten hätte.
Der nüchtern-pragmatische Finanzminister strahlte offenkundig die meiste Kompetenz aus. In allen Umfragen attestierten ihm die Deutschen die meiste Kanzlerfähigkeit. Scholz gelang es, als Persönlichkeit zu punkten. Und so zog er in der finalen Duellsituation auch Wähler von der Linkspartei, den Grünen – und aus dem Lager der Union an. Armin Laschet hingegen war eindeutig der falsche Kandidat. Er bediente lediglich die konservative Kernklientel. Für bürgerliche Liberale war er nicht wählbar, sie machten ihr Kreuz bei der FDP, die ein starkes zweistelliges Resultat erreichte. Der Union fehlten am Ende auch viele Stimmen, die an die Freien Wähler gingen.
Die Grünen blieben hinter den Umfrage-Erwartungen, jedoch bei Weitem über dem letzten Ergebnis 2017. Die meisten Zuwächse erzielten die Sozialdemokraten und die Grünen. Sollte Scholz die Nase vorn behalten, wäre eine Ampel-Koalition der Sieger unter Einschluss der FDP folgerichtig. Für die Union hingegen wäre der Gang in die Opposition sinnvoll, falls sie nicht den ersten Platz erreicht. Die Partei ist nach 16 Jahren an der Macht inhaltlich und personell ausgelaugt.
Angela Merkel wird Deutschland und Europa vermutlich noch eine längere Zeit als geschäftsführende Kanzlerin erhalten bleiben. Es ist davon auszugehen, dass sich die Koalitionsgespräche hinziehen. Es muss ja nicht so lang dauern wie beim vergangenen Mal. Nach der Bundestagswahl 2017 verhandelten die Parteien fast ein halbes Jahr lang, bis nach einem Umweg über die geplatzte Jamaika-Variante (Union, Grüne und FDP) erst nach einem halben Jahr die Große Koalition stand. Diese ungeliebte Rückfalloption bestünde rein rechnerisch auch diesmal. Davor jedoch werden die Parteien alle anderen Möglichkeiten ausloten.
Neue Impulse und frische Ideen wären am ehesten von den Grünen und der FDP zu erwarten. Doch inhaltlich ziehen die beiden bisherigen Oppositionsparteien in unterschiedliche Richtungen. Spannt man sie zusammen, kann Energie entstehen – oder auch Chaos. Von ihrer Konsensfähigkeit könnte künftig abhängen, ob Deutschland vorankommt. Einer Einladung, sich an der Regierung zu beteiligen, werden sich weder die Liberalen noch die Grünen so leicht entziehen können. Nach ihrem Ausstieg aus den Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition benötigten die Freidemokraten Jahre, um sich in den Umfragen wieder zu erholen. Ein zweites Mal wird FDP-Chef Christian Lindner kaum Nein sagen können.
Deutschland steht bei allem Gejammer über den Reformstau in der Spätphase Merkel im Vergleich zu anderen europäischen Staaten immer noch gut da. Die Erwerbslosigkeit liegt mit 3,6 Prozent unter dem EU-Durchschnitt. Auch die Schuldenquote ist mit 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts trotz der staatlichen Stützungsausgaben der vergangenen Corona-Monate immer noch im beherrschbaren Rahmen. Die Regierungen der Ära Merkel haben solide gewirtschaftet und sich so Spielraum erarbeitet. Von Italien oder auch Frankreich, deren Schuldenquoten bei 155 beziehungsweise 115 Prozent liegen, kann man das weniger behaupten.
Doch Deutschland braucht einen Aufbruch, um sich fit für das 21. Jahrhundert zu machen. Bei der Digitalisierung hinkt Europas größte Volkswirtschaft teilweise peinlich hinterher. Das Rentensystem steht angesichts der Überalterung der Gesellschaft auf tönernen Füßen. Und eine der Kehrseiten einer schwäbisch klammen Finanzpolitik ist ein auffälliger Mangel an Investitionen in Infrastruktur und Bildung. Das alles und noch mehr sollte die nächste Regierung schnell anpacken, doch Deutschland steuert auf ein paar Monate weiteren Stillstands zu: auf zähe Koalitionsverhandlungen und Nabelschau.