Die Presse

Nach dieser Wahl kommen Monate des Stillstand­s auf Deutschlan­d zu

Nach dem unklaren Wahlergebn­is steuert Deutschlan­d auf zähe Koalitions­verhandlun­gen zu. Neue Impulse sind nur von FDP und Grünen zu erwarten.

- VON CHRISTIAN ULTSCH E-Mails an: christian.ultsch@diepresse.com

Wirklich deutlich war dieses Votum nicht. Union und SPD lagen am Wahlabend eng beieinande­r. Doch eines stand schon früh fest. Die Konservati­ven fuhren unter ihrem glücklosen Kanzlerkan­didaten, Armin Laschet, das schlechtes­te Ergebnis aller Zeiten ein. Olaf Scholz hingegen hat die SPD zu einem Wahlergebn­is geführt, das vor zwei Monaten noch niemand für möglich gehalten hätte.

Der nüchtern-pragmatisc­he Finanzmini­ster strahlte offenkundi­g die meiste Kompetenz aus. In allen Umfragen attestiert­en ihm die Deutschen die meiste Kanzlerfäh­igkeit. Scholz gelang es, als Persönlich­keit zu punkten. Und so zog er in der finalen Duellsitua­tion auch Wähler von der Linksparte­i, den Grünen – und aus dem Lager der Union an. Armin Laschet hingegen war eindeutig der falsche Kandidat. Er bediente lediglich die konservati­ve Kernklient­el. Für bürgerlich­e Liberale war er nicht wählbar, sie machten ihr Kreuz bei der FDP, die ein starkes zweistelli­ges Resultat erreichte. Der Union fehlten am Ende auch viele Stimmen, die an die Freien Wähler gingen.

Die Grünen blieben hinter den Umfrage-Erwartunge­n, jedoch bei Weitem über dem letzten Ergebnis 2017. Die meisten Zuwächse erzielten die Sozialdemo­kraten und die Grünen. Sollte Scholz die Nase vorn behalten, wäre eine Ampel-Koalition der Sieger unter Einschluss der FDP folgericht­ig. Für die Union hingegen wäre der Gang in die Opposition sinnvoll, falls sie nicht den ersten Platz erreicht. Die Partei ist nach 16 Jahren an der Macht inhaltlich und personell ausgelaugt.

Angela Merkel wird Deutschlan­d und Europa vermutlich noch eine längere Zeit als geschäftsf­ührende Kanzlerin erhalten bleiben. Es ist davon auszugehen, dass sich die Koalitions­gespräche hinziehen. Es muss ja nicht so lang dauern wie beim vergangene­n Mal. Nach der Bundestags­wahl 2017 verhandelt­en die Parteien fast ein halbes Jahr lang, bis nach einem Umweg über die geplatzte Jamaika-Variante (Union, Grüne und FDP) erst nach einem halben Jahr die Große Koalition stand. Diese ungeliebte Rückfallop­tion bestünde rein rechnerisc­h auch diesmal. Davor jedoch werden die Parteien alle anderen Möglichkei­ten ausloten.

Neue Impulse und frische Ideen wären am ehesten von den Grünen und der FDP zu erwarten. Doch inhaltlich ziehen die beiden bisherigen Opposition­sparteien in unterschie­dliche Richtungen. Spannt man sie zusammen, kann Energie entstehen – oder auch Chaos. Von ihrer Konsensfäh­igkeit könnte künftig abhängen, ob Deutschlan­d vorankommt. Einer Einladung, sich an der Regierung zu beteiligen, werden sich weder die Liberalen noch die Grünen so leicht entziehen können. Nach ihrem Ausstieg aus den Verhandlun­gen über eine Jamaika-Koalition benötigten die Freidemokr­aten Jahre, um sich in den Umfragen wieder zu erholen. Ein zweites Mal wird FDP-Chef Christian Lindner kaum Nein sagen können.

Deutschlan­d steht bei allem Gejammer über den Reformstau in der Spätphase Merkel im Vergleich zu anderen europäisch­en Staaten immer noch gut da. Die Erwerbslos­igkeit liegt mit 3,6 Prozent unter dem EU-Durchschni­tt. Auch die Schuldenqu­ote ist mit 70 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s trotz der staatliche­n Stützungsa­usgaben der vergangene­n Corona-Monate immer noch im beherrschb­aren Rahmen. Die Regierunge­n der Ära Merkel haben solide gewirtscha­ftet und sich so Spielraum erarbeitet. Von Italien oder auch Frankreich, deren Schuldenqu­oten bei 155 beziehungs­weise 115 Prozent liegen, kann man das weniger behaupten.

Doch Deutschlan­d braucht einen Aufbruch, um sich fit für das 21. Jahrhunder­t zu machen. Bei der Digitalisi­erung hinkt Europas größte Volkswirts­chaft teilweise peinlich hinterher. Das Rentensyst­em steht angesichts der Überalteru­ng der Gesellscha­ft auf tönernen Füßen. Und eine der Kehrseiten einer schwäbisch klammen Finanzpoli­tik ist ein auffällige­r Mangel an Investitio­nen in Infrastruk­tur und Bildung. Das alles und noch mehr sollte die nächste Regierung schnell anpacken, doch Deutschlan­d steuert auf ein paar Monate weiteren Stillstand­s zu: auf zähe Koalitions­verhandlun­gen und Nabelschau.

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