Gazprom verdient sich nun eine goldene Nase
Der Gaspreis spielt derzeit völlig verrückt. Am meisten freut sich der russische und weltweit größte Branchenkonzern, Gazprom, darüber. Einen Teil der Preissteigerung verursacht er sogar selbst. Aber ist auch die Aktie noch ein „Kauf“?
Moskau/Wien. Ob beim russischen Gaskonzern Gazprom bereits die Sektkorken knallen? Verwunderlich wäre es nicht. Schließlich sieht der größte Gaskonzern der Welt mit seinen etwa 470.000 Mitarbeitern einer Geldflut entgegen wie seit Jahren nicht. In den nächsten Monaten sollten die Kassen in der Konzernzentrale und damit im Staatsbudget kräftig klingeln. Der Gaspreis könnte nun nämlich für längere Zeit auf jenem Niveau bleiben, das er zuletzt in einer beispiellosen Rallye erzielt hat. Wenn der Gaspreis nur zehn Tage lang um 25 Prozent niedriger wäre, würden sich europäische Verbraucher drei Milliarden Dollar ersparen, errechnete die Bank JP Morgan in einer Analyse.
Seit Jahresbeginn hat sich der Preis verdreifacht. Um eine Ahnung von dieser Dimension zu bekommen, reicht es, den Preis in Öläquivalente umzurechnen, wie das Ole Hansen, Rohstoffstratege der Saxo Bank, getan hat. Es wären über 150 Dollar je Barrel – mehr als das Allzeithoch in der Rohstoffhausse 2008. Der Gazprom-Konzern selbst, der 40 Prozent des Gasimports in Europa abdeckt und dort auf ein Drittel Marktanteil kommt, wusste spätestens im Sommer, dass er einem fetten Jahr entgegensteuert, und hat daher den Jahresdurchschnittspreis für seine langfristigen Kontrakte gleich einmal um 30 Prozent auf 269,6 Dollar je 1000 Kubikmeter hinaufgesetzt. Im Vorjahr hat er 134 Dollar betragen.
Bewusste Angebotsverknappung
Der Höhenflug kommt wie eine Genugtuung nach all den Querelen mit dem Westen, die Moskau als Schikanen interpretiert hat. Allen voran das dritte EU-Energiepaket zur Liberalisierung und Entmonopolisierung des Markts. Und zuletzt das Tauziehen um die neue Pipeline Nord Stream 2, die nach langen Verzögerungen nun fertig ist, obwohl die Gastransitländer Polen und Ukraine sowie die USA mit der Warnung vor der Abhängigkeit Europas von den Russen opponiert haben.
Heute, da die globale Konjunktur einen Nachfrageüberhang erzeugt und Europa einer mangelnden Gasversorgung entgegenblickt, sind es wohlgemerkt nicht die USA, die mit ihrem Flüssiggas in Europa einspringen, weil auch sie es lieber für den noch lukrativeren asiatischen Markt verschiffen.
Doch auch Gazprom steht im Verdacht, kein sauberes Spiel zu spielen. EU-Abgeordnete und manche Branchenexperten argwöhnen, dass die Russen den Markt manipulieren und damit den jüngsten Preisanstieg, der von dem Asien-Effekt und der unzureichenden Stromproduktion aus erneuerbaren Energiequellen in Europa herrührt, eskaliert ließen. Gazprom habe sich nämlich geweigert, zusätzliche Gaslieferungen durch bereits existierende Pipelines zu buchen, und soll seine Produktion gedrosselt haben. Das unterstellte Kalkül: Gazprom wolle die deutsche Bundesnetzagentur unter Druck setzen, damit diese die bis 8. Jänner fällige Genehmigung zur Eröffnung von Nord Stream 2 rascher erteile.
Der Streit um zusätzliche Gasmengen
Ein solcher Konnex mit Nord Stream 2 ist nicht undenkbar, zumal Kreml-Sprecher Dmitri Peskow erklärt hat, eine Entspannung auf dem Gasmarkt sei erst nach der Inbetriebnahme dieser Pipeline zu erwarten. Gazprom weist die Vorwürfe jedenfalls zurück.
Dass Gazprom die bestehenden Lieferverträge einhält, steht außer Zweifel. Der Streit dreht sich um zusätzliches Gas, das Europa brauchte und Gazprom vorerst nicht liefern will. Diverse Erklärungen seit dem Sommer deuten das an. So wurde die Lieferung durch Belarus und Polen aufgrund einer unnötigen Pipeline-Wartung reduziert. Durch die Ukraine wurden keine zusätzlichen Kapazitäten gebucht. Und ab dem vierten Quartal will Gazprom keine zusätzlichen Lieferungen mehr über seine 2018 gestartete Handelsplattform ESP abwickeln.
Demnach bleibt Gazprom vorerst bei seiner Schätzung, heuer 183 Milliarden Kubikmeter nach Europa (inklusive der Türkei) zu liefern. Das ist nicht signifikant mehr als die vorjährigen 174,89 Milliarden. Jedenfalls deutlich weniger als die etwa 200 Mrd. Kubikmeter in den Jahren 2018 und 2019.
Der Ball scheine recht klar im Feld der EU zu liegen, meint JP Morgan. Denn nachdem die Bundesnetzagentur ihr Urteil abgegeben haben werde, sei noch die EU-Kommission am Wort, sodass sich der Start von Nord Stream 2 bis in die zweite Hälfte von 2022 verzögern könnte. „Wir sehen derzeit keinen Grund, warum Russland bzw. Gazprom einen besonderen Anreiz haben sollte, seine Haltung gegenüber Nord Stream 2 oder der Ukraine zu ändern . . . Für Gazprom könnte die Situation besser kaum sein.“
Italienischer Streik
Gazprom weiß um die Notsituation. Und daher will Gazprom offenbar mehr als nur eine rasche Genehmigung durch die Bundesnetzagentur. Wie Michail Krutichin, Partner der Moskauer Beratungsfirma Rus Energy und intimer Gazprom-Kenner, im Gespräch mit der „Presse“erklärt, habe ein renommierter GazpromBerater am Dienstag auf einer Expertenkonferenz der Stiftung für Wissenschaft und Politik in Berlin erklärt, dass Gazprom für Nord Stream 2 auf eine Aufweichung des EU-Pakets abziele. Konkret möchte der Konzern die Pipeline im Fall des Falles nicht mit anderen Lieferanten teilen müssen, sondern die gesamte Kapazität für sich vorbehalten wissen. Daher wolle er vorerst keine zusätzlichen Volumina exportieren. Es sei eine Art italienischer Streik, habe der Gazprom-Berater, dessen Name aufgrund der Chathouse-Regel der Konferenz nicht genannt werden dürfe, gesagt. Es sei eine Erpressung, sagt Krutichin: „Putin will, dass Europa einknickt.“
Jedenfalls werden bei Gazprom die hohen Preise das geringere Exportvolumen kurzfristig mehr als kompensieren. Der Vorstand hat daher schon eine Erhöhung des Investitionsprogramms um 31 Prozent auf 16,3 Milliarden Dollar vorgeschlagen. Langfristig steht Gazprom vor großen Investitionen vor allem im Osten, um China zu bedienen.
In den ersten sechs Monaten des Jahres hat Gazprom den Umsatz um 50 Prozent auf 4,35 Bio. Rubel (51 Milliarden Euro) gesteigert. Der Gewinn kletterte auf 968 Milliarden Rubel – nach 32 Milliarden im Halbjahr 2020.
Das sagen die Analysten
Die Aktie des im Westen gehandelten Gazprom-Hinterlegungsscheins ADR hat auf Einjahressicht bereits um 100 Prozent auf inzwischen 9,3 Dollar zugelegt, wobei er immer noch weniger als ein Drittel des 2008 erzielten Kurses kostet. JP Morgan sagt „Overweight“mit Ziel zehn Euro. Für die 341 Rubel teure Gazprom-Aktie raten von den 16 bei Bloomberg erfassten Analysten 14 zum „Kauf“und zwei zum „Halten“. Das Konsenskursziel beträgt 345,59 Rubel. Das gegenwärtige KGV von 7,5 liegt noch merkbar unter denen der führenden russischen Ölkonzerne, das Forward-KGV auf zwölf Monate mit 4,15 deutlich darunter.
Gazprom will für 2021 und die folgenden Jahre mindestens 50 Prozent des bereinigten Gewinns als Dividende auszahlen. Analysten rechnen für das laufende Jahr wieder mit einer zweistelligen Dividendenrendite.