Engelbert Humperdinck, der Meistersinger für Eilige
Es gibt Ein-Werk-Komponisten wie Pietro Mascagni oder Ruggero Leoncavallo. Der Schöpfer von „Hänsel und Gretel“hätte mehr zu bieten.
Ein guter Kapitän bei Erkundungszügen im Repertoire.
Vor 100 Jahren ist Engelbert Humperdinck gestorben. Seine Märchenoper „Hänsel und Gretel“rangiert konsequent unter den 30 meistgespielten Opern des Repertoires. Aber Humperdinck könnte unsere Spielpläne auch mit anderen Werken anreichern, stünde dem nicht der Trend zur Reduktion entgegen, der unter dem Vorwand der angeblichen Qualitätssicherung zu einer Verarmung des Opernlebens geführt hat.
Statt den Reichtum des musiktheatralischen Erbes zu dokumentieren, stellen unsere Intendanten fortwährend dieselben Titel „neu zur Diskussion“. Sie stürzen sich alle auf den „Barbier von Sevilla“und die „Traviata“. Dabei könnten sie aus gegebenem Anlass in Humperdincks Werkkatalog stöbern. Nebst „Hänsel und Gretel“ließe sich da mit den „Königskindern“eine der reichsten Partituren der deutschen Spätromantik entdecken – nicht nur für kurzfristige Einsichtnahme wie zuletzt bei den Festspielen in Erl, sondern wirklich dauerhaft als Vehikel für große Singschauspieler – nachzuhören mit Hermann Prey auf CD, nachzuschauen auf DVD mit Jonas Kaufmann!
Die „Königskinder“sind wie schon das populäre Schwesterstück, das 1893 unter Richard Strauss uraufgeführt wurde, einer der besten Beweise dafür, dass sich der überwältigende Eindruck, den Richard Wagner auf seine Zeitgenossen gemacht hat, von findigen Köpfen überwinden ließ.
„Hänsel und Gretel“klingt mehr als einmal wie ein federleicht-fantasievoller Kommentar zur „Meistersinger“-Musik. Und doch bricht sich der dort angedeutete Trend zur Volkstümlichkeit bei Humperdinck auf besonders originelle Weise Bahn.
Diesem Komponisten ist es gelungen, sogar Kinderlieder vollkommen harmonisch und fasslich in einem hoch artifiziellen musikalischen Gewebe aufgehen zu lassen. Mit den „Königskindern“und auch mit „Dornröschen“, für das sich Brigitte Fassbaender in einer Münchner Rundfunkproduktion eingesetzt hat, gelang Humperdinck sogar eine eigenwillige Spielart des „Melodrams“.
Die Notation der Sprechstimme mit vorgegebenen Tonhöhen, die später Arnold Schönberg in „Pierrot lunaire“als seine Idee proklamiert hat, hat Humperdinck bereits vorgegeben . . .
Die „Königskinder“wurden dann für die Metropolitan Opera in eine echte Oper umgewandelt. Beide Versionen wären taugliche Objekte für eine Bereicherung des Stückekanons – wie übrigens auch die „Maurische Rhapsodie“für philharmonische Konzerte. Als Kapitän bei einer großen Entdeckungsreise im weiten Land der Musikgeschichte würde Humperdinck durchaus taugen. Aber es wird wohl bei der x-ten Rossini-Premiere, den x-ten Mahler- und Schostakowitsch-Zyklen bleiben . . .