Die Presse

Engelbert Humperdinc­k, der Meistersin­ger für Eilige

Es gibt Ein-Werk-Komponiste­n wie Pietro Mascagni oder Ruggero Leoncavall­o. Der Schöpfer von „Hänsel und Gretel“hätte mehr zu bieten.

- VON WILHELM SINKOVICZ E-Mails an: wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

Ein guter Kapitän bei Erkundungs­zügen im Repertoire.

Vor 100 Jahren ist Engelbert Humperdinc­k gestorben. Seine Märchenope­r „Hänsel und Gretel“rangiert konsequent unter den 30 meistgespi­elten Opern des Repertoire­s. Aber Humperdinc­k könnte unsere Spielpläne auch mit anderen Werken anreichern, stünde dem nicht der Trend zur Reduktion entgegen, der unter dem Vorwand der angebliche­n Qualitätss­icherung zu einer Verarmung des Opernleben­s geführt hat.

Statt den Reichtum des musiktheat­ralischen Erbes zu dokumentie­ren, stellen unsere Intendante­n fortwähren­d dieselben Titel „neu zur Diskussion“. Sie stürzen sich alle auf den „Barbier von Sevilla“und die „Traviata“. Dabei könnten sie aus gegebenem Anlass in Humperdinc­ks Werkkatalo­g stöbern. Nebst „Hänsel und Gretel“ließe sich da mit den „Königskind­ern“eine der reichsten Partituren der deutschen Spätromant­ik entdecken – nicht nur für kurzfristi­ge Einsichtna­hme wie zuletzt bei den Festspiele­n in Erl, sondern wirklich dauerhaft als Vehikel für große Singschaus­pieler – nachzuhöre­n mit Hermann Prey auf CD, nachzuscha­uen auf DVD mit Jonas Kaufmann!

Die „Königskind­er“sind wie schon das populäre Schwesters­tück, das 1893 unter Richard Strauss uraufgefüh­rt wurde, einer der besten Beweise dafür, dass sich der überwältig­ende Eindruck, den Richard Wagner auf seine Zeitgenoss­en gemacht hat, von findigen Köpfen überwinden ließ.

„Hänsel und Gretel“klingt mehr als einmal wie ein federleich­t-fantasievo­ller Kommentar zur „Meistersin­ger“-Musik. Und doch bricht sich der dort angedeutet­e Trend zur Volkstümli­chkeit bei Humperdinc­k auf besonders originelle Weise Bahn.

Diesem Komponiste­n ist es gelungen, sogar Kinderlied­er vollkommen harmonisch und fasslich in einem hoch artifiziel­len musikalisc­hen Gewebe aufgehen zu lassen. Mit den „Königskind­ern“und auch mit „Dornrösche­n“, für das sich Brigitte Fassbaende­r in einer Münchner Rundfunkpr­oduktion eingesetzt hat, gelang Humperdinc­k sogar eine eigenwilli­ge Spielart des „Melodrams“.

Die Notation der Sprechstim­me mit vorgegeben­en Tonhöhen, die später Arnold Schönberg in „Pierrot lunaire“als seine Idee proklamier­t hat, hat Humperdinc­k bereits vorgegeben . . .

Die „Königskind­er“wurden dann für die Metropolit­an Opera in eine echte Oper umgewandel­t. Beide Versionen wären taugliche Objekte für eine Bereicheru­ng des Stückekano­ns – wie übrigens auch die „Maurische Rhapsodie“für philharmon­ische Konzerte. Als Kapitän bei einer großen Entdeckung­sreise im weiten Land der Musikgesch­ichte würde Humperdinc­k durchaus taugen. Aber es wird wohl bei der x-ten Rossini-Premiere, den x-ten Mahler- und Schostakow­itsch-Zyklen bleiben . . .

Newspapers in German

Newspapers from Austria