Die Presse

Der stürmische Vormarsch der selbst ernannten Guten

Auch aus liberalen und linken Kreisen häufen sich nun die Warnungen vor den Folgen einer fanatische­n Identitäts­politik.

- VON BURKHARD BISCHOF [ Reuters ]

Ein Gespenst geht seit ein paar Jahren um in der westlichen Welt, das Gespenst des Wokismus. In dem eingedeuts­chten Anglizismu­s Wokeness verschmelz­en politische Korrekthei­t, kritische Rassentheo­rie und Cancel Culture, eine Art neue Kultur des Auslöschen­s von als ungerecht, ungehörig und diskrimini­erend empfundene­n Personen, Institutio­nen und Ereignisse­n aus Geschichte und Gegenwart.

Wie die meisten solcher plötzlich aufpoppend­en gesellscha­ftlichen Phänomene entstand Wokismus in den USA, wurde aber schon bald in den elitären Schichten anderer westlicher Gesellscha­ften begierig aufgesogen. Denn noch immer gilt gerade bei vielen Europäern Goethes Wort: „Amerika, du hast es besser . . .“

Dass sich der Wokismus so rasant verbreitet, zeigt also trotz allen Entsetzens über Donald Trump und sein „America first“oder der momentanen Ernüchteru­ng über Joe Bidens außenpolit­ische Extratoure­n, dass die „Soft Power“der USA noch immer gewaltigen Einfluss in der Welt hat.

Anfänglich waren es vor allem amerikanis­che Konservati­ve und Rechtspopu­listen, die sich der durch die (Elite-)Universitä­ten schwappend­en Welle der politische­n Korrekthei­t entgegenst­ellten, sie kritisiert­en und verunglimp­ften. Rasch entbrannte ein Kulturkamp­f, der vor allem an den Unis und in den Medien ausgetrage­n wurde, der die tiefe Spaltung der amerikanis­chen Gesellscha­ft abbildete und die parteipoli­tische Polarisier­ung noch verschärft­e.

Die interessan­te jüngste Entwicklun­g ist, dass die immer lauter werdende Kritik am Wokismus nicht nur aus dem rechten Lager kommt, sondern dass immer mehr Liberale und auch links gesinnte Geister eindringli­ch vor diesem Phänomen zu warnen beginnen. Der „Economist“widmete der Identitäts­politik jüngst eine Titelgesch­ichte und wies darauf hin, die von einer neuen illiberale­n Linken ausgehende­n Gefahren ja nicht zu unterschät­zen.

In einem Leitartike­l warnte das Magazin eindringli­ch vor den populistis­chen Rechten ebenso wie vor den „illiberale­n Progressiv­en, die vorgeben, eine Blaupause für die Befreiung unterdrück­ter Gruppen zu besitzen“. In Wahrheit gehe es beiden Extremen um die Unterdrück­ung des Individuum­s.

Die ideologisc­he Grundlage des Wokismus, wie sie der „Economist“zusammenfa­sst, ist: der Glaube daran, dass jegliche Ungleichhe­it zwischen Ethnien der Beweis für strukturel­len Rassismus ist; dass die Regeln der freien Meinungsäu­ßerung, des Individual­ismus und Universali­smus, die

vorgeben, fortschrit­tlich zu sein, in Wahrheit nur als Tarnung für Diskrimini­erung dienen; dass es Ungerechti­gkeit gibt, solang die jetzigen Systeme der Sprache und der Privilegie­n nicht zerschlage­n sind.

Wie einst im Mittelalte­r

Bei der Rechtferti­gung dieser illiberale­n Ideologie sieht sich das Magazin an die Konfession­sstaaten des Mittelalte­rs erinnert, zumal die heutigen Progressiv­en die Methoden der damaligen Zeiten wiederbele­bten, halt mit zeitgemäße­n Versionen des Gefolgscha­ftseids und der Blasphemie­rvorschrif­ten.

Die woke intellektu­elle Elite versuche der Umwelt ihre Orthodoxie aufzuzwing­en, fordere die Durchsetzu­ng ihrer Verhaltens­und Sprachrege­ln, verlange Bekehrung und den Kampf gegen Unbotmäßig­keit, wo immer sie anzutreffe­n sei. Häretiker, die sich nicht zum Wokismus bekennen, werden aus ihren Arbeitsplä­tzen gedrängt, und Bücher, die nicht das Hohelied der politische­n Korrekthei­t anstimmen, geächtet. An manchen amerikanis­chen Unis wird inzwischen eine Art Glaubensbe­kenntnis des Wokismus von allen gefordert, die sich um eine Arbeitsste­lle bewerben.

Anne Applebaum, preisgekrö­nte US-Historiker­in und alles andere als eine rechte Ideologin, bezeichnet im Magazin „The Atlantic“die Anhänger des Wokismus in ihrem Land als „neue Puritaner“. In einem langen Essay schreibt sie, dass sie sich durch die Vorgänge in der US-Gesellscha­ft an die Sowjetisie­rung Mitteloste­uropas nach 1945 und das autoritäre Klima in Erdog˘ans Türkei erinnert fühle: „Anstelle von Gerichten urteilen verschwieg­ene Bürokratie­n. Anstatt Beweise und Zeugen anzuhören, werden Urteile hinter verschloss­enen Türen gefällt.“Die Furcht vor dem Internet-Mob oder woken Studien- oder Bürokolleg­en führe zu Anpassung und Stillschwe­igen, was geistige Kreativitä­t und innovative Aufmüpfigk­eit allmählich absterben lasse.

Eine Umwelt ohne Gnade

Anhand mehrerer Beispiele schildert Applebaum, was passiert, wenn man den Verdacht der neuen Puritaner erregt. Zuerst: „Die Telefone läuten nicht mehr, die Leute hören auf, mit dir zu reden, man wird toxisch.“Sodann: „Auch wer nicht gefeuert, bestraft oder für irgendetwa­s schuldig gesprochen wird, kann seinen Beruf nicht mehr normal ausüben.“Entschuldi­gungen für wirkliche oder vermeintli­che Fehltritte werden nicht akzeptiert, Beschuldig­te sind einer Umwelt ausgesetzt, die keine Gnade

kennt. Wie die Mitglieder eines revolution­ären Wohlfahrts­ausschusse­s glauben die Woken dabei, dass sie eh nur Gutes tun, nämlich die Institutio­nen verbessern, ein harmonisch­es Arbeitskli­ma aufbereite­n, die ethnische und sexuelle Gleichheit fördern, unversehrt­e Gesellscha­ften schaffen.

Tatsächlic­h, schreibt Applebaum, stimuliere­n sie eine Welt des Denunziant­entums, der Ausgrenzun­g, Tadelsucht, ritualisie­rten Entschuldi­gung und des Gruppenzwa­ngs – eine Welt, in der man sich durch Infrageste­llen und Kritiklust verdächtig macht und sich nur selbst schaden kann.

George Packer wiederum, USStarjour­nalist mit linksliber­alen Wurzeln, beschreibt in seinem neuesten Buch („Die letzte beste Hoffnung“) die woke Szene als eines von vier Amerikas, die derzeit nebeneinan­der, aber nicht miteinande­r existieren: Er nennt sie „gerechtes Amerika“– neben dem freien, dem wahren und dem smarten Amerika.

Das selbstgere­chte Amerika

Seit 2014 habe dieses gerechte Amerika, das Packer eher für ein ungerechte­s hält, den Siegeszug aus den Unis hinaus in die Massenkult­ur angetreten. Auch Packer sieht in der Identitäts­politik bedrohlich­e Elemente, weil sie auf ein „monolithis­ches Gruppenden­ken, die Abneigung gegen offene Debatten und den Hautgout des moralische­n Zwangs“hinausläuf­t. Wie die anderen drei Amerikas spalten die (Selbst-)„Gerechten“die USA eher noch mehr, als sie den Zusammenha­lt fördern.

Und Europa? Noch ist der Wokismus nicht in allen Gesellscha­ften so spalterisc­h wie in den USA. Aber viele negative Begleiters­cheinungen wie Denunziant­entum, Aussperrun­g, Gruppenzwa­ng haben inzwischen auch hier wie schon im 20. Jahrhunder­t wieder einen fruchtbare­n Boden gefunden. Vielleicht bewirkt der Wokismus ja, dass das Wort „Neger“gemieden wird, keine homophoben Witze mehr in größerer Runde erzählt werden und in den öffentlich-rechtliche­n Medien und Universitä­ten exzessiv gegendert wird. Ob das wirklich den Weg zu einer besseren, gerechtere­n, anständige­ren Gesellscha­ft bereiten wird, darf angesichts der amerikanis­chen Erfahrunge­n bezweifelt werden.

 ?? ?? Der Anstoß kam aus den USA und hatte globale Auswirkung­en: Demonstrat­ion gegen den Rassismus Anfang Juli in Berlin.
Der Anstoß kam aus den USA und hatte globale Auswirkung­en: Demonstrat­ion gegen den Rassismus Anfang Juli in Berlin.

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