Analyse. Bei der Präsidentenwahl am Sonntag haben Kandidaten am linken und rechten Rand die besten Aussichten. Die Mitte löst sich auf.
Buenos Aires. Was lang als größte Erfolgsgeschichte Lateinamerikas galt, steht nun an ein em Scheideweg. Chile, das Andenland, dessen Volkswirtschaft von 1990 bis 2018 stetig gewachsen war, könnte bald einen Präsidenten bekommen, der einen radikalen Kurswechsel vollziehen will. Unter den sieben Kandidaten, die am Sonntag für die Präsidentschaft kandidieren, sind zwei prononcierte Linke sowie zwei rechte Hardliner.
Nur zwei Bewerber – der liberale Sebasti n Sichel und die Christdemokratin Yasna Provoste – repräsentieren diese Kräfte der Mitte, die Chile zum Land mit den höchsten Durchschnittseinkommen und den niedrigsten Armutsziffern des Subkontinents gemacht haben. Aber zusammen bekamen die zwei Gemäßigten in den jüngsten Umfragen mit acht und elf Prozent weniger als allein der Rechtsaußen Jos Antonio Kast (21,7 Prozent). Und an zweit e r Stelle liegt mit etwa 18 Prozent Gabriel Boric, der die linke „Breite Font“anführt.
Die Chancen sind also groß, dass die Chilenen am 19. Dezem
ber in einer Stichwahl zwischen einem erklärten Bewunderer der Militärdiktatur und einem Verbündeten der kommunistischen Partei entscheiden dürfen , wenn sie dann überhaupt noch zur Wahl gehen wollen.
Das Erbe Pinochets
„Inmitten dieses erschütterten Lateinamerika ist Chile eine wahre Oase mit einer stabilen Demokratie“, hatte Präsident Sebasti n Pi
era Anfang Oktober 2019 gesagt. Nurwen ige Tage danach brannten Busse, U-Bahnen und Supermärkte. Ein Schülerprotest wegen U-Bahn-Tickets hatte sich zur na
tionalen Revolte ausgewachsen. Nach zwei Monaten Gewalt und Gegengewalt musste Pin˜ era akzeptieren, dass sein Volk einen anderen Gesellschaftsvertrag verlangte als den, den die Wirtschafts- und Rechtsberater des Diktators Pinochet hinterlassen hatten.
„Chiles stattliche Zahlen hatten das größte Problem des Landes verdeckt: Die Konzentration des Reichtums und die Zunahme der wirtschaftlichen Ungleichheit. Beides erzeugte eine enorme Unzufriedenheit in der Bevölkerung“, sagt M ximo Quitral, Politologe an der Universidad Tecnol gi ca Metropolitana von Santiago.
Der grundsätzliche Neuanfang, den die Bürger 2019 auf den Straßen verlangten, wurde inzwischen den 155 Bürgern übertragen, die im säulenbewehrten Gebäude des vormaligen Nationalkongresses das neue Grundgesetz ausarbeiten. Die Versammlung hat bis Juli Zeit, danach soll der Verfassungsentwurf zur Volksabstimmung gebracht werden.
Verbündeter Bolsonaros
Ein neues Regelwerk wird gewiss mehr staatliche Teilnahme an Gesundheitsversorgung und Pensionen vorschreiben . Aber die neue Charta könnte auch einen drastischeren Linksruck vollziehen. Das Ausmaß dieses anstehenden Umbruchs ist wohl der Grund für die extreme Polarisierung vor diesem Wahlgang. Der Pinochet-Verehrer Jos Antonio Kast profitiert vom Entsetzen der Wohlhabenden und vom Widerwillen der in Chile traditionell starken Ruhe und Ordnungsfraktion.
Wie sein brasilianischer Verbündeter Jair Bolsonaro weiß der jüngste Sohn eines vormaligen Offiziers der deutschen Wehrmacht sämtliche uniformierten Kräfte hinter sich. Zudem ist Kast, der mit einem gigantischen Graben entlang der Nordgrenze künftig Einwanderer abhalten will, klarer Favorit bei den Wählern über 60, die in Chile bisher wesentlich disziplinierter zur Stimmabgabe schritten als die Jungen.
35-Jähriger lockt die Jungen an
Das allerdings kann sich diesmal ändern, denn hinter dem erst 35-jährigen Gabriel Boric, einst Anführer der Studentenmärsche gegen Pin˜era, stehen viele Jungwähler, die sich nun offenbar in wesentlich größerer Zahl ins Wählerregister einschrieben als früher.
Noch sind viele Chilenen unentschlossen. Darum messen viele der letzten TV-Kandidatenrunde zu Wochenanfang große Bedeutung zu. Hier jedoch schwächelte ausgerechnet der Frontrunner Kast, als seine Gegner – angeführt vom Linken Gabriel Boric – bei dem Anwalt deutliche Wissenslücken über wirtschaftliche Zusammenhänge offenlegten. Kast ist nicht nur der Kandidat mit dem derzeit größten Zuspruch. Er hat auch deutlich die meisten Gegner.