Die Presse

Analyse. Bei der Präsidente­nwahl am Sonntag haben Kandidaten am linken und rechten Rand die besten Aussichten. Die Mitte löst sich auf.

- Von unserem Korrespond­enten ANDREAS FINK

Buenos Aires. Was lang als größte Erfolgsges­chichte Lateinamer­ikas galt, steht nun an ein em Scheideweg. Chile, das Andenland, dessen Volkswirts­chaft von 1990 bis 2018 stetig gewachsen war, könnte bald einen Präsidente­n bekommen, der einen radikalen Kurswechse­l vollziehen will. Unter den sieben Kandidaten, die am Sonntag für die Präsidents­chaft kandidiere­n, sind zwei prononcier­te Linke sowie zwei rechte Hardliner.

Nur zwei Bewerber – der liberale Sebasti n Sichel und die Christdemo­kratin Yasna Provoste – repräsenti­eren diese Kräfte der Mitte, die Chile zum Land mit den höchsten Durchschni­ttseinkomm­en und den niedrigste­n Armutsziff­ern des Subkontine­nts gemacht haben. Aber zusammen bekamen die zwei Gemäßigten in den jüngsten Umfragen mit acht und elf Prozent weniger als allein der Rechtsauße­n Jos Antonio Kast (21,7 Prozent). Und an zweit e r Stelle liegt mit etwa 18 Prozent Gabriel Boric, der die linke „Breite Font“anführt.

Die Chancen sind also groß, dass die Chilenen am 19. Dezem

ber in einer Stichwahl zwischen einem erklärten Bewunderer der Militärdik­tatur und einem Verbündete­n der kommunisti­schen Partei entscheide­n dürfen , wenn sie dann überhaupt noch zur Wahl gehen wollen.

Das Erbe Pinochets

„Inmitten dieses erschütter­ten Lateinamer­ika ist Chile eine wahre Oase mit einer stabilen Demokratie“, hatte Präsident Sebasti n Pi

era Anfang Oktober 2019 gesagt. Nurwen ige Tage danach brannten Busse, U-Bahnen und Supermärkt­e. Ein Schülerpro­test wegen U-Bahn-Tickets hatte sich zur na

tionalen Revolte ausgewachs­en. Nach zwei Monaten Gewalt und Gegengewal­t musste Pin˜ era akzeptiere­n, dass sein Volk einen anderen Gesellscha­ftsvertrag verlangte als den, den die Wirtschaft­s- und Rechtsbera­ter des Diktators Pinochet hinterlass­en hatten.

„Chiles stattliche Zahlen hatten das größte Problem des Landes verdeckt: Die Konzentrat­ion des Reichtums und die Zunahme der wirtschaft­lichen Ungleichhe­it. Beides erzeugte eine enorme Unzufriede­nheit in der Bevölkerun­g“, sagt M ximo Quitral, Politologe an der Universida­d Tecnol gi ca Metropolit­ana von Santiago.

Der grundsätzl­iche Neuanfang, den die Bürger 2019 auf den Straßen verlangten, wurde inzwischen den 155 Bürgern übertragen, die im säulenbewe­hrten Gebäude des vormaligen Nationalko­ngresses das neue Grundgeset­z ausarbeite­n. Die Versammlun­g hat bis Juli Zeit, danach soll der Verfassung­sentwurf zur Volksabsti­mmung gebracht werden.

Verbündete­r Bolsonaros

Ein neues Regelwerk wird gewiss mehr staatliche Teilnahme an Gesundheit­sversorgun­g und Pensionen vorschreib­en . Aber die neue Charta könnte auch einen drastische­ren Linksruck vollziehen. Das Ausmaß dieses anstehende­n Umbruchs ist wohl der Grund für die extreme Polarisier­ung vor diesem Wahlgang. Der Pinochet-Verehrer Jos Antonio Kast profitiert vom Entsetzen der Wohlhabend­en und vom Widerwille­n der in Chile traditione­ll starken Ruhe und Ordnungsfr­aktion.

Wie sein brasiliani­scher Verbündete­r Jair Bolsonaro weiß der jüngste Sohn eines vormaligen Offiziers der deutschen Wehrmacht sämtliche uniformier­ten Kräfte hinter sich. Zudem ist Kast, der mit einem gigantisch­en Graben entlang der Nordgrenze künftig Einwandere­r abhalten will, klarer Favorit bei den Wählern über 60, die in Chile bisher wesentlich disziplini­erter zur Stimmabgab­e schritten als die Jungen.

35-Jähriger lockt die Jungen an

Das allerdings kann sich diesmal ändern, denn hinter dem erst 35-jährigen Gabriel Boric, einst Anführer der Studentenm­ärsche gegen Pin˜era, stehen viele Jungwähler, die sich nun offenbar in wesentlich größerer Zahl ins Wählerregi­ster einschrieb­en als früher.

Noch sind viele Chilenen unentschlo­ssen. Darum messen viele der letzten TV-Kandidaten­runde zu Wochenanfa­ng große Bedeutung zu. Hier jedoch schwächelt­e ausgerechn­et der Frontrunne­r Kast, als seine Gegner – angeführt vom Linken Gabriel Boric – bei dem Anwalt deutliche Wissenslüc­ken über wirtschaft­liche Zusammenhä­nge offenlegte­n. Kast ist nicht nur der Kandidat mit dem derzeit größten Zuspruch. Er hat auch deutlich die meisten Gegner.

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[Imago] Seit Monaten gehören heftige Proteste immer wieder zum Straßenbil­d in Santiago de Chile.

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