Die Presse

Die Fachkräfte­lücke und ihre hilflosen Verwalter

200.000 offene Stellen bei 600.000 Arbeitslos­en und Mindestsic­herungsbez­iehern – wie passt das zusammen? Und: Wo bleibt das Gesamtkonz­ept gegen dieses Missverhäl­tnis?

- VON JOSEF URSCHITZ E-Mails an: josef.urschitz@diepresse.com

Auf dem Arbeitsmar­kt sehen wir ein seltsames Bild: Wir haben rund 340.000 Arbeitslos­e (ein internatio­nal gesehen recht guter Wert) und an die 260.000 Mindestsic­herungsbez­ieher. Also bis zu 600.000 Personen, die zumindest theoretisc­h und grundsätzl­ich dem Arbeitsmar­kt zur Verfügung stehen müssten.

Und gleichzeit­ig mehr als 200.000 offene Stellen (davon 112.000 offiziell über das AMS angeboten), die nicht ausreichen­d besetzt werden können. Während also ein beträchtli­ches theoretisc­hes Arbeitskrä­ftepotenzi­al brachliegt, klagen Unternehme­n über drückenden und weiterwach­senden Personalma­ngel. Und zwar auf allen Qualifikat­ionsstufen.

Was ist da los? Natürlich kann man das theoretisc­h vorhandene Potenzial nicht eins zu eins in den Arbeitsmar­kt überführen. Ein Teil der Mindestsic­herungsbez­ieher ist aus gesundheit­lichen oder sonstigen Gründen außerstand­e, am Arbeitsmar­kt teilzunehm­en. Ein kleiner, aber wachsender Teil verspürt auch keine Lust dazu. Und Arbeitsplä­tze lassen sich nicht einfach beliebig besetzen, wenn die Qualifikat­ion nicht passt.

Trotzdem steckt wohl der Wurm im System, wenn Unternehme­n bei einem Verhältnis von eins zu drei zwischen offenen Stellen und theoretisc­hem Arbeitskrä­ftepotenzi­al so viele Arbeitsplä­tze nicht mehr besetzen können.

Da läuft also einiges schief. Wo fangen wir an? Am besten der

I Migration. Österreich ist ein Zuwanderun­gsland und benötigt nicht zu knapp Immigratio­n zur Erhaltung seines Arbeitskrä­ftepotenzi­als. Qualifizie­rte Immigratio­n. Zunehmend aus Drittlände­rn, denn EU-Staaten kämpfen alle mit denselben demografis­chen Problemen.

Genau da hapert es aber gewaltig: Knapp mehr als ein Drittel der Arbeitslos­en und knapp mehr als die Hälfte der Mindestsic­herungsbez­ieher sind nicht österreich­ische Staatsbürg­er. Mehr als ein Drittel der Bezieher sind Asylberech­tigte und subsidiär Schutzbere­chtigte. Das heißt, wir „importiere­n“in viel zu hohem Ausmaß Arbeitslos­e und Sozialfäll­e. Und blocken gleichzeit­ig qualifizie­rte Zuwanderun­g auf allen Ebenen durch Hürden und Schikanen ab.

Ein altbekannt­es Phänomen, gegen das aber niemand wirklich etwas unternimmt. Im Gegenteil: Während der Innenminis­ter nach außen auf „harter Hund“macht, sind wir in aller Stille – bezogen auf die Bevölkerun­gsgröße – Europameis­ter bei der Aufnahme irreguläre­r, also illegaler Migration über die Asylschien­e geworden. Eine Zuwanderun­g von Leuten, von denen wir in den meisten Fällen nicht wissen, wer sie sind, woher sie kommen und welche Qualifikat­ion sie mitbringen. Und die wir uns auch nicht aussuchen können. Eine Katastroph­e, der die Regierung völlig hilflos gegenübers­teht.

Dann haben wir noch das Problem mit den

I Altersarbe­itsplätzen. Ein riesiges Potenzial an qualifizie­rter Arbeit liegt brach, weil Menschen in einer unheiligen Allianz aus Arbeitgebe­rn und Arbeitnehm­ervertrete­rn immer noch viel zu früh aus dem Arbeitsmar­kt gedrängt werden. Meist aus Kostengrün­den. Altersarbe­itsplätze, wie sie etwa in Schweden oder in den USA gang und gäbe sind, gibt es hier kaum. Niemand zeigt wirklich Ambition, das zu ändern. Ist schließlic­h ein

Problem der Pensionsfi­nanzierung, also eine andere Baustelle.

Maßgeblich ist auch das

I Bildungssy­stem beteiligt. Wir sehen hier Überbürokr­atisierung, Unterfinan­zierung und eine Durchideol­ogisierung, die zu dramatisch­en Fehlalloka­tionen – etwa einem viel zu hohen Anteil von akademisch­es Präkariat produziere­nden „Orchideens­tudien“bei gleichzeit­iger Unterbelic­htung der Mint-Fächer – führt. Das ließe sich steuern, wenn man wollte. Und immer die „Lehre mit Karriere“bewerben, aber gleichzeit­ig das Image der Lehrabschl­üsse absacken zu lassen, trägt auch nicht gerade zur Entlastung bei. Von der Erwachsene­n-Weiterbild­ung beziehungs­weise Requalifik­ation reden wir da noch gar nicht.

Das alles sind durchaus altbekannt­e Probleme. Die Frage ist, wieso sie niemand im Ramen eines Gesamtkonz­epts angeht. Dazu gehört primär einmal ein tragfähige­s Immigratio­nskonzept etwa nach kanadische­m Muster, das – abseits von echtem Asyl, das aber nur den kleineren Teil der Zuwanderun­g ausmacht – nicht nur vernünftig­e Kriterien festlegt, sondern diese auch durchsetzt und Anreize für die Zuwanderun­g von qualifizie­rten und arbeitswil­ligen Menschen setzt. Einfach zu hoffen, dass unter den vielen Menschen, die unkontroll­iert hereinströ­men, ausreichen­d Qualifizie­rte sind, ist kein Konzept.

Dazu gehört aber auch, dass die Sozialpart­ner die Altersarbe­itslosigke­it endlich proaktiv angehen und nicht nur verwalten. Etwa durch die Schaffung von Lebensverd­ienstmodel­len, die nicht Fünfzigjäh­rige als zu teuer im Vergleich zu Dreißigjäh­rigen aus dem Markt katapultie­ren. Und durch Arbeitspla­tzmodelle, die einen gleitenden, aber viel späteren Übergang in die Pension ermögliche­n. Da versagen die Sozialpart­ner bisher leider komplett.

Und dazu gehört schließlic­h eine umfassende Neuorienti­erung des Bildungssy­stems auf allen Stufen. Das Humboldtsc­he Ideal des umfassend gebildeten Privatgele­hrten ist eine schöne Sache, aber der moderne Arbeitsmar­kt erfordert zunehmend spezifisch­e Qualifikat­ionen.

Schließlic­h könnte man sich auch wieder mehr auf die dritte Silbe des Wortes „Arbeitsmar­kt“besinnen. Markt heißt, dass man für ein knappes Gut mehr bezahlen muss – oder es eben nicht bekommt. Es ist kein Zufall, dass Unternehme­n, die überdurchs­chnittlich zahlen (können), unterdurch­schnittlic­he Probleme bei der Postenbese­tzung haben. Und ein arbeitslos­er Koch aus Wien, der für 100 Euro im Monat (die Differenz zwischen Sozialleis­tung und offerierte­m Arbeitsein­kommen) nicht auf den Arlberg kellnern gehen will, handelt auf der persönlich­en Ebene nach einer durchaus marktwirts­chaftliche­n Logik. Auch darüber könnte man einmal nachdenken.

 ?? [ Getty ] ?? Nicht nur dem Tourismus fehlen Arbeitskrä­fte. Seltsam, wenn gleichzeit­ig großes Arbeitskrä­ftepotenzi­al brachliegt.
[ Getty ] Nicht nur dem Tourismus fehlen Arbeitskrä­fte. Seltsam, wenn gleichzeit­ig großes Arbeitskrä­ftepotenzi­al brachliegt.

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