Die Fachkräftelücke und ihre hilflosen Verwalter
200.000 offene Stellen bei 600.000 Arbeitslosen und Mindestsicherungsbeziehern – wie passt das zusammen? Und: Wo bleibt das Gesamtkonzept gegen dieses Missverhältnis?
Auf dem Arbeitsmarkt sehen wir ein seltsames Bild: Wir haben rund 340.000 Arbeitslose (ein international gesehen recht guter Wert) und an die 260.000 Mindestsicherungsbezieher. Also bis zu 600.000 Personen, die zumindest theoretisch und grundsätzlich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen müssten.
Und gleichzeitig mehr als 200.000 offene Stellen (davon 112.000 offiziell über das AMS angeboten), die nicht ausreichend besetzt werden können. Während also ein beträchtliches theoretisches Arbeitskräftepotenzial brachliegt, klagen Unternehmen über drückenden und weiterwachsenden Personalmangel. Und zwar auf allen Qualifikationsstufen.
Was ist da los? Natürlich kann man das theoretisch vorhandene Potenzial nicht eins zu eins in den Arbeitsmarkt überführen. Ein Teil der Mindestsicherungsbezieher ist aus gesundheitlichen oder sonstigen Gründen außerstande, am Arbeitsmarkt teilzunehmen. Ein kleiner, aber wachsender Teil verspürt auch keine Lust dazu. Und Arbeitsplätze lassen sich nicht einfach beliebig besetzen, wenn die Qualifikation nicht passt.
Trotzdem steckt wohl der Wurm im System, wenn Unternehmen bei einem Verhältnis von eins zu drei zwischen offenen Stellen und theoretischem Arbeitskräftepotenzial so viele Arbeitsplätze nicht mehr besetzen können.
Da läuft also einiges schief. Wo fangen wir an? Am besten der
I Migration. Österreich ist ein Zuwanderungsland und benötigt nicht zu knapp Immigration zur Erhaltung seines Arbeitskräftepotenzials. Qualifizierte Immigration. Zunehmend aus Drittländern, denn EU-Staaten kämpfen alle mit denselben demografischen Problemen.
Genau da hapert es aber gewaltig: Knapp mehr als ein Drittel der Arbeitslosen und knapp mehr als die Hälfte der Mindestsicherungsbezieher sind nicht österreichische Staatsbürger. Mehr als ein Drittel der Bezieher sind Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte. Das heißt, wir „importieren“in viel zu hohem Ausmaß Arbeitslose und Sozialfälle. Und blocken gleichzeitig qualifizierte Zuwanderung auf allen Ebenen durch Hürden und Schikanen ab.
Ein altbekanntes Phänomen, gegen das aber niemand wirklich etwas unternimmt. Im Gegenteil: Während der Innenminister nach außen auf „harter Hund“macht, sind wir in aller Stille – bezogen auf die Bevölkerungsgröße – Europameister bei der Aufnahme irregulärer, also illegaler Migration über die Asylschiene geworden. Eine Zuwanderung von Leuten, von denen wir in den meisten Fällen nicht wissen, wer sie sind, woher sie kommen und welche Qualifikation sie mitbringen. Und die wir uns auch nicht aussuchen können. Eine Katastrophe, der die Regierung völlig hilflos gegenübersteht.
Dann haben wir noch das Problem mit den
I Altersarbeitsplätzen. Ein riesiges Potenzial an qualifizierter Arbeit liegt brach, weil Menschen in einer unheiligen Allianz aus Arbeitgebern und Arbeitnehmervertretern immer noch viel zu früh aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden. Meist aus Kostengründen. Altersarbeitsplätze, wie sie etwa in Schweden oder in den USA gang und gäbe sind, gibt es hier kaum. Niemand zeigt wirklich Ambition, das zu ändern. Ist schließlich ein
Problem der Pensionsfinanzierung, also eine andere Baustelle.
Maßgeblich ist auch das
I Bildungssystem beteiligt. Wir sehen hier Überbürokratisierung, Unterfinanzierung und eine Durchideologisierung, die zu dramatischen Fehlallokationen – etwa einem viel zu hohen Anteil von akademisches Präkariat produzierenden „Orchideenstudien“bei gleichzeitiger Unterbelichtung der Mint-Fächer – führt. Das ließe sich steuern, wenn man wollte. Und immer die „Lehre mit Karriere“bewerben, aber gleichzeitig das Image der Lehrabschlüsse absacken zu lassen, trägt auch nicht gerade zur Entlastung bei. Von der Erwachsenen-Weiterbildung beziehungsweise Requalifikation reden wir da noch gar nicht.
Das alles sind durchaus altbekannte Probleme. Die Frage ist, wieso sie niemand im Ramen eines Gesamtkonzepts angeht. Dazu gehört primär einmal ein tragfähiges Immigrationskonzept etwa nach kanadischem Muster, das – abseits von echtem Asyl, das aber nur den kleineren Teil der Zuwanderung ausmacht – nicht nur vernünftige Kriterien festlegt, sondern diese auch durchsetzt und Anreize für die Zuwanderung von qualifizierten und arbeitswilligen Menschen setzt. Einfach zu hoffen, dass unter den vielen Menschen, die unkontrolliert hereinströmen, ausreichend Qualifizierte sind, ist kein Konzept.
Dazu gehört aber auch, dass die Sozialpartner die Altersarbeitslosigkeit endlich proaktiv angehen und nicht nur verwalten. Etwa durch die Schaffung von Lebensverdienstmodellen, die nicht Fünfzigjährige als zu teuer im Vergleich zu Dreißigjährigen aus dem Markt katapultieren. Und durch Arbeitsplatzmodelle, die einen gleitenden, aber viel späteren Übergang in die Pension ermöglichen. Da versagen die Sozialpartner bisher leider komplett.
Und dazu gehört schließlich eine umfassende Neuorientierung des Bildungssystems auf allen Stufen. Das Humboldtsche Ideal des umfassend gebildeten Privatgelehrten ist eine schöne Sache, aber der moderne Arbeitsmarkt erfordert zunehmend spezifische Qualifikationen.
Schließlich könnte man sich auch wieder mehr auf die dritte Silbe des Wortes „Arbeitsmarkt“besinnen. Markt heißt, dass man für ein knappes Gut mehr bezahlen muss – oder es eben nicht bekommt. Es ist kein Zufall, dass Unternehmen, die überdurchschnittlich zahlen (können), unterdurchschnittliche Probleme bei der Postenbesetzung haben. Und ein arbeitsloser Koch aus Wien, der für 100 Euro im Monat (die Differenz zwischen Sozialleistung und offeriertem Arbeitseinkommen) nicht auf den Arlberg kellnern gehen will, handelt auf der persönlichen Ebene nach einer durchaus marktwirtschaftlichen Logik. Auch darüber könnte man einmal nachdenken.