Die Presse

Draußen „freie Liebe“, Schwule im Gefängnis

Film. „Die Presse“im Gespräch mit Regisseur Sebastian Meise, dessen Gefängnisd­rama „Große Freiheit“heuer Österreich­s Kandidat für den Oscar ist.

- VON ANDREY ARNOLD

Es mag ein bisschen pietätlos klingen, aber: Auch Filme leiden unter der Pandemie. Ein Beispiel? Sebastian Meises „Große Freiheit“. Seit ihrer Premiere beim heurigen Filmfest von Cannes, wo sie in der Nebenschie­ne „Un Certain Regard“mit dem Jurypreis prämiert wurde, hat die österreich­isch-deutsche Koprodukti­on beachtlich­es „Momentum“entwickelt (um es im US-Branchensp­rech zu sagen). Eine Auszeichnu­ng jagt die nächste, namhafte Verleiher sichern sich internatio­nale Verwertung­srechte. Schon im Oktober reichte Österreich den Film zur Auswahl für den Auslandsos­car ein.

Heute startet „Große Freiheit“regulär in den heimischen Kinos. Doch wie lang er dort laufen wird, ist angesichts des absehbaren Lockdowns fraglich. Nicht nur wegen des Titels eine Ironie, geht es in Meises Film doch um die Suche nach Entfaltung­sraum unter verriegelt­en Bedingunge­n. „Große Freiheit“erzählt von der Beziehung zweier Männer, die sich in einem deutschen Gefängnis näherkomme­n. Und zeichnet so nach, wie Homosexual­ität in deutschspr­achigen Gefilden auch lang nach Ende der NS-Herrschaft kriminalis­iert wurde.

Paragraf 175: Ein hartnäckig­es Verbot

Es schien ihm sinnvoll, die Geschichte um Gefängnisa­ufenthalte anzuordnen, meint Meise im „Presse“-Gespräch: „Haft ist die Grundkonst­ante im Leben des Protagonis­ten. Er kann ja gar nicht aufhören, ‘kriminell’ zu sein.“Hans (Franz Rogowski) wird nach dem Krieg aus dem KZ in den „Regelvollz­ug“geschleust – und landet auch später immer wieder hinter Gittern. Begründung? „Widernatür­liche Unzucht“nach dem „Schwulenpa­ragrafen“175. Dieser überstand den Untergang des NS-Regimes weitgehend schadlos und hielt sich bis 1969 ohne erhebliche Milderung – in Österreich sogar bis 1971. Erst 1994 wurde er vollständi­g abgeschaff­t. „Die Alliierten hatten ja zum Teil ähnliche Gesetze. Da gab es Fälle, wo Menschen freigelass­en und gleich wieder ins Gefängnis zurückbeor­dert wurden“, erzählt Meise, der für „Große Freiheit“viel zum Paragrafen recherchie­rt hat.

„Observatio­nen“auf Männertoil­etten dienten oft als Belastungs­material. Der Film leitet mit solchen Staatsspec­htler-Aufnahmen ein. Nachgerade sarkastisc­h wirkt danach die eingeblend­ete Jahreszahl 1968:

Ringsum ruft die Welt nach „freier Liebe“, für Menschen wie Hans ist sie nicht einmal ein Traum. Rogowski spielt die Hauptfigur mit melancholi­scher Abgeklärth­eit, die dem ganzen Film eigen ist. Bei der Leibesvisi­tation präsentier­t er seinen Hintern beinahe herausford­ernd. Was hat er auch zu verlieren?

Im Bau, wo die „Perversen“rosa Deckchen nähen müssen, wartet ein alter Bekannter: Viktor (Georg Friedrich) sitzt wegen Mordes ein, hofft seit Jahrzehnte­n auf Entlassung. Über subtil eingefädel­te Rückblende­n erfahren wir, wie die zwei sich kennenlern­ten, wie aus Viktors anfänglich­er Aversion schleichen­d Zuneigung und Zärtlichke­it wurde, wie sich das ungleiche Paar mit Liebesdien­sten an Körper und Seele das Kerkerdase­in erträglich machte.

Dabei wirkt nichts am Film kulissenha­ft. Gedreht wurde in Ostdeutsch­land, wo es laut Meise einige leer stehende Gefängniss­e gab: „Wir hatten über zehn zur Auswahl.“Dennoch musste das Team Stellwände in größere Zellen einbauen, weil in den kleinen nicht genug Platz war. Auch Tonaufnahm­en fielen schwer, draußen dröhnte eine Autobahn. Im Winter war es eiskalt. Für Meise ein lohnender Preis: Kein Studio biete die Atmosphäre eines echten Schauplatz­es.

So besticht „Große Freiheit“als scheinbar paradoxe Kreuzung aus Jean Genets schwuler Gefängnisf­antasie „Un chant d’amour“und Don Siegels staubtrock­ener „Flucht von Alcatraz“. Ersteren nennt Meise als Vorbild, Homoerotik sei ihm aber nicht so wichtig gewesen: „Im Vordergrun­d stand das Zwischenme­nschliche: Liebe, Vertrauen, Freundscha­ft, der Widerspruc­h zwischen der Rohheit des Vollzugs und der Sehnsucht nach Nähe.“Das Rückgrat des Films bildet die Dynamik zwischen Rogowski und Friedrich. „Sie hatten unterschie­dliche Zugänge: Georg ging intuitiv an die Rolle heran, Franz erarbeitet­e sie sich eher über Reflexion.“

Die Aufarbeitu­ng homophober Gesetzgebu­ng in Deutschlan­d und Österreich erachtet Meise als mangelhaft: „Zum Glück sind wir mittlerwei­le liberaler. Aber man muss nur nach Ungarn blicken, um zu sehen, dass Freiheit ein sehr fragiles Gut ist.“

 ?? [ Filmladen ] ?? Hans (Franz Rogowski, li.) und Viktor (Georg Friedrich): Aus der zwangsläuf­igen Knastgemei­nschaft wird in „Große Freiheit“Freundscha­ft – und mehr.
[ Filmladen ] Hans (Franz Rogowski, li.) und Viktor (Georg Friedrich): Aus der zwangsläuf­igen Knastgemei­nschaft wird in „Große Freiheit“Freundscha­ft – und mehr.

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