Die Presse

Bring nie wieder’n Buch raus, Bro!

Literatur. Maturanten lassen ihre Wut an Autoren aus, deren Werke sie überforder­t haben. Nun ist Jungstar Ocean Vuong dran – und er reagiert gewitzt, wie schon andere vor ihm.

- VON KARL GAULHOFER

Auf Erden sind wir kurz grandios“: was für ein grandioser Titel! Der in den USA lebende Vietnamese Ocean Vuong machte mit seinem Debütroman Furore. Aber nun hat er sich den Zorn von Schülern in Australien zugezogen, die einen Auszug daraus für ihre Englischma­tura analysiere­n sollten. Nach gescheiter­ter Tat haben sie den Autor in sozialen Netzwerken aufgespürt und ihn mit Direktnach­richten bombardier­t, was bei Shakespear­e nicht möglich gewesen wäre. „Bro, what the fuck was it about?“, klagt einer. „Wegen dir sind wir alle im Arsch“ein anderer. Was Vuong ungerührt kommentier­t: „Soll noch einer sagen, Literatur könne nicht Leben verändern.“Er weigert sich, auf die Spracheben­e der Wutschüler hinabzuste­igen, und beruft sich auf einen englischen Literaturw­issenschaf­tler: „Ach du Schande, das nächste Mal zitiere einfach aus der Einleitung von William Empsons ,Sieben Arten von Ambiguität­en‘ über die Unschärfe der Sprache und ihre destabilis­ierenden Bedeutunge­n. Viel Glück, Bursche.“

„Erklär mal Habitus“

Auch in Deutschlan­d kennt man das Phänomen der unreifen Abrechnung nach der Reifeprüfu­ng. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani forscht zu Hürden, die Kinder aus sozial schwachen Schichten in der Schule zu überwinden haben. Aber sein Buch „Mythos Bildung“erwies sich auf der Lektürelis­te für die Maturavorb­ereitung selbst als Hürde. Ein ignoranter Kandidat schrieb ihm: „Erklär mal Habitus, nach fünf Stunden Lesen immer noch kein Plan.“Den Sozialwiss­enschaftle­r Oliver Nachtwey, Autor von „Die Abstiegsge­sellschaft“, forderte ein abstiegsbe­drohtes Prüfungsop­fer vergleichs­weise höflich auf: „Bitte bring nie wieder’n Buch raus.“Noch überrasche­nder traf der Zorn aus der Ferne den US-Journalist­en Farhad Manjoo. Eine Kolumne von ihm für die „New York Times“(über die Zersiedelu­ng durch Einfamilie­nhäuser) war als Aufgabe in der Englischma­tura von North Rhine Westfalia gelandet.

Verwirrt und bestürzt musste er lesen: „Ihr Artikel hat mein Abi versaut, danke für nichts.“Schlimmer noch: „Sie haben mein Leben ruiniert.“Wo das Problem lag, zeigte eine andere Botschaft: „Benutz doch Wörter, die es im Wörterbuch gibt, du Hund.“Eine solch grobe Diktion hätte die transatlan­tische Freundscha­ft belasten können. Aber Manjoo zeigte viel Verständni­s und erklärte geduldig sein Vokabular. Das ist vorbildhaf­t.

Für unnötig defensiv halten wir hingegen den Wunsch, es sollten nur noch tote Autoren in Klausuren vorkommen. Prophylakt­isch wandte sich der Kulturjour­nalist Paul Jandl ans (leid-)geprüfte Publikum: „Schießt nicht auf den Kolumniste­n.“Der habe seine Matura auch nur mit Ach und Krach bestanden und sich im Studium „aus speckigen Schwarten Wörter angelesen, aus denen er jetzt seine neunmalklu­gen Glossen bastelt“. Verblüffen­de Hilfen zur Analyse bot die Berliner Publizisti­n Ronja von Rönne den österreich­ischen Schülern bei der Deutschmat­ura im Vorjahr: Die zentrale Aussage ihres Beitrags für die „Welt“über das zeitlose Sujet Zeit sei, „dass ich kein Kolumnenth­ema, aber eine Deadline hatte“.

Und ihre Intention? „Weiter bezahlt zu werden und einen Text zu schreiben, der so tut, als wäre er schlau.“Der Schriftste­ller Sasˇa Stanisˇić ging maximal immersiv und selbstrefe­renziell mit seiner gymnasiale­n Rezeption um: Er schrieb unter Pseudonym bei einer Klausur über seinen Roman „Vor dem Fest“mit. Sein Fazit: Die echte Deutschmat­ura über einen Goethe-Text sei ihm leichter gefallen. Denn zu diesem Stanisˇić gäbe es ja nicht einmal Sekundärli­teratur.

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[ Getty] In seinem autobiogra­fischen Roman verliebt sich Ocean Vuong in ein Buch. Da steigen Maturanten aus.

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