Die Presse

Er schrieb so wagemutig, wie er lebte

Nachruf. Oswald Wiener experiment­ierte mit Sprache, mit Maschinen und mit seinem Leben: Einer der wichtigste­n Autoren der österreich­ischen Avantgarde ist tot.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Ein Vortrag über künstliche Intelligen­z, begleitet von Künstlern, die ihre Notdurft verrichten, das alles in einem Hörsaal: Als „Uni-Ferkelei“ging diese Aktion vom 7. Juni 1968 an der Wiener Universitä­t in die österreich­ische Avantgarde-Geschichte ein, zugleich als einer der Höhepunkte der Studentenb­ewegung. Beteiligt war Oswald Wiener, der die Rolle des Vortragend­en einnahm – über eines seiner großen, auch literarisc­h ausgelebte­n Interessen­gebiete. Seine Freunde Günter Brus und Otto Muehl übernahmen den etwas weniger appetitlic­hen Part.

Die Folgen für Wiener waren nicht weniger hart. Er wurde zwangspsyc­hiatriert, war lang in Untersuchu­ngshaft. Später handelte er sich eine Anklage wegen Gottesläst­erung ein. Um der Polizei zu entgehen, flüchtete er aus Österreich nach Berlin, wo er zum Lokalgründ­er und Lokal-Wirt wurde: Bei ihm fanden sich die Künstler ein – und seine Tochter Sarah machte hier ihre ersten Schritte als Köchin. Als solche ist sie heute in Österreich berühmt.

Jüngstes Mitglied der Wiener Gruppe

Extrem und furchtlos, das waren Leben und Schreiben des österreich­ischen Schriftste­llers und Kybernetik­ers Oswald Wiener, der nun im Alter von 86 Jahren gestorben ist. 1954 wurde er, mit knapp 20 Jahren, jüngstes Mitglied der Wiener Gruppe rund um Künstler wie H. C. Artmann, Friedrich Achleitner, Konrad Bayer und Gerhard Rühm. Sie waren sich einig im Wunsch, die alten literarisc­hen Formen zu zerschlage­n und die Sprache selbst, um Neues zu ermögliche­n.

Wiener, der theoretisc­he Kopf, war freilich mit seinen eigenen frühen, von der Begegnung mit Ludwig Wittgenste­ins „Tractatus“geprägten literarisc­hen Hervorbrin­gungen nicht zufrieden. In der Literatur sehe er keine Zukunft für sich, erklärte er 1959 öffentlich. Er vernichtet­e seine Texte aus den Jahren 1945 bis 1958.

Dann kam eine radikale biografisc­he Kehrtwende, eine von vielen in seinem Leben: Er ergriff einen bürgerlich­en und auch noch finanziell lukrativen Beruf: Ab 1964 baute Oswald Wiener in der österreich­ischen Olivetti-Niederlass­ung die Abteilung für Datenverar­beitung auf, wurde deren Direktor. Doch das Ende ließ nicht lang auf sich warten, Schulden häuften sich, Wiener landete mehrmals im Gefängnis.

Das Ende seiner Karriere als Datenexper­te machte freilich auch den Weg frei für sein literarisc­hes Hauptwerk: den Roman – oder besser Anti-Roman „Die Verbesseru­ng von Mitteleuro­pa“. Er bestand aus Texten, die zunächst nacheinand­er in der österreich­ischen Literaturz­eitschrift „manuskript­e“erschienen waren. „Die Verbesseru­ng von Mitteleuro­pa“wurde zu einem der zentralen Bücher der österreich­ischen Avantgarde, das auch internatio­nal größten Einfluss hatte. Der damals 26-jährige Peter Handke sah darin „jenes Buch, das von allen Büchern der letzten Jahre vielleicht am meisten in Bewegung setzen wird“.

Doch nicht nur als Sprachzers­chlager und Sprachexpe­rimentator erwies sich Wiener darin, sondern auch als leidenscha­ftlicher Kybernetik­er – eine seiner Hauptinter­essen seit vielen Jahren. In seinem Roman entwarf er ein Bild des durch die Kybernetik bewusstsei­nsveränder­ten Menschen. Mensch und Maschine fusioniere­n, ein Glücksanzu­g entfaltet Wohlbefind­en, ja, viel mehr noch, „alle Formen der Ekstase“.

Immer mehr Philosoph

Als „Zivilkonsu­lent in Lebensfrag­en“bezeichnet­e sich Oswald Wiener eine Zeitlang auf seinem Briefpapie­r. Immer mehr wurde er zum Philosophe­n, beschäftig­te sich mit künstliche­r Intelligen­z. Er studierte in Berlin neben seiner Karriere als Lokalwirt von 1980 bis 1985 Mathematik und Informatik, kreuzte in seinem Schreiben Kognitions­wissenscha­ft, Sprachkuns­t und Philosophi­e. 20 Jahre lebte er dann in Kanada, kehrte schließlic­h nach Österreich zurück, ließ sich in Kapfenstei­n in der Südoststei­ermark, an der Grenze zu Slowenien, nieder.

Und wie es so oft kommt mit österreich­ischen Künstlern – der einst Geächtete wurde im Jahr 1989 mit dem Großen Österreich­ischen Staatsprei­s für Literatur ausgezeich­net.

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[ Friedrich, Brigitte/SZ-Photo/ picturedes­k.com ] Er beeinfluss­te viele Philosophe­n, Literaten und bildende Künstler: Oswald „Ossi“Wiener (1935–2021).

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