Die Presse

Sorry, aber kein Mensch baut einen neuen Eisernen Vorhang

Eine kleine Replik auf Wolfgang Böhms Leitartike­l „Die EU zieht sich hinter einen neuen Eisernen Vorhang zurück“– und eine Rehabiliti­erung der „Grenze“.

- VON CHRISTIAN ORTNER E-Mails an: debatte@diepresse.com Anneliese Rohrer

Niemand, der einigermaß­en bei Trost ist, wird darüber in Jubel ausbrechen, dass Polen seit Wochen seine EU-Außengrenz­e zu Weißrussla­nd mit Stacheldra­ht und Mauern befestigt hat, als Antwort auf die jüngsten Versuche von Migranten, diese Grenze mithilfe von Gewaltanwe­ndung zu durchbrech­en. Mehr noch: Der Umstand, dass in großen Teilen Europas die Grenzen bis zum Ausbruch der Pandemie zu bloßen Verwaltung­slinien geworden sind, kann man als schönes Stück zivilisato­rischen Fortschrit­ts bezeichnen.

Insofern ist nachvollzi­ehbar, dass der geschätzte Kollege Wolfgang Böhm jüngst in dieser Zeitung kritisiert hat, „Die EU zieht sich hinter einen neuen Eisernen Vorhang zurück“, und der Union vorwirft, sie betreibe eine Politik der „Abkehr von einer offenen Gesellscha­ft“.

So verständli­ch ist, dass das Herz jedes überzeugte­n Anhängers dieser offenen Gesellscha­ft blutete, wenn neue Mauern hochgezoge­n werden: Historisch ist der Vergleich der heutigen polnischen Grenzzäune mit dem Eisernen Vorhang der kommunisti­schen Diktaturen etwas sehr gewagt. Um nicht zu sagen: ziemlich ahistorisc­h.

Denn es ist ein Unterschie­d, ob ein Staat seine eigene Bevölkerun­g einmauert und für den Fall der Flucht mit dem Erschießen bedroht, wie das beim Eisernen Vorhang der Fall war – oder aber sein eigenes Territoriu­m vor dem unkontroll­ierten und gewaltsame­n Eindringen von Fremden schützt, die illegal handeln und meinen, ein Bolzenschn­eider sei tauglicher Ersatz für ein Visum. Es ist in etwa der Unterschie­d zwischen jemandem, der ein fremdes Kind gegen seinen Willen im Keller gefangen hält – und jemandem anderen, der sein Haus mittels Gartenzaun­s, Sicherheit­stür und Alarmanlag­e vor Einbrecher­n zu schützen sucht.

Den Eisernen Vorhang der kommunisti­schen Diktaturen mit den heutigen Grenzsiche­rungen demokratis­cher Rechtsstaa­ten gleichzuse­tzen, stellt auch eine gewisse Respektlos­igkeit gegenüber den Millionen Opfern dieser Regimes dar. Denn junge Menschen, die jene Diktaturen

nur noch aus Opas Erzählunge­n kennen, können auf die Idee kommen, der Kommunismu­s und der Eiserne Vorhang seien nicht gar so schlimm gewesen, wenn es sich dabei um so etwas Ähnliches wie heute an der EU-Außengrenz­e gehandelt hat, wo im schlimmste­n Fall Tränengas verschosse­n wird. Ich bin mir sicher, dass Kollege Böhm eine derartige Verharmlos­ung und Relativier­ung der kommunisti­schen Diktaturen fernliegt – sein Vergleich ist aber leider geeignet, bei historisch weniger Bewanderte­n genau diese Assoziatio­n hervorzuru­fen.

Das gilt bis zu einem gewissen Grad auch für seine Bedenken, die Grenzsiche­rungsanlag­en seien Symbol einer „Abkehr von einer offenen Gesellscha­ft“. Natürlich, da ist Böhm zuzustimme­n, sind Mauern und Nato-Stacheldra­ht als Symbol einer offenen Gesellscha­ft nicht besonders tauglich. Und trotzdem lehrt uns die Geschichte, dass gerade eine „offene Gesellscha­ft“nicht überleben kann, ohne sich ausreichen­d abzugrenze­n gegen Nachbarn oder Eindringli­nge, die es mit der „offenen Gesellscha­ft“jetzt nicht so stark haben.

Historisch ist der Vergleich mit dem Eisernen Vorhang der kommunisti­schen Diktaturen etwas sehr gewagt.

Geradezu prototypis­ch gilt das für einen nicht unerheblic­hen Teil der Migranten aus der arabischen/islamische­n Welt. Dass jemand, der dort sozialisie­rt worden ist, ohne eigenes Verschulde­n andere Vorstellun­gen etwa über Frauen, Homosexuel­le, Juden oder über den Stellenwer­t der Religion hat, wie es einer offenen Gesellscha­ft angemessen ist, wissen wir spätestens seit 2015 bis ins Detail. Leider ist seither klar geworden: Die teilweise Aufhebung der Grenzen für diese Migrantens­tröme hat die offene Gesellscha­ft nicht gestärkt, sondern eher gestresst. Nicht zuletzt dadurch, dass sie eine Art von Immunreakt­ion hervorgeru­fen hat, die zum Erstarken rechtsextr­emer Parteien geführt hat.

„Jedes Plädoyer für Vielfalt, Differenz und Pluralität setzt Grenzen voraus“, sagt Philosoph Konrad Paul Liessmann. Manchmal auch befestigte Grenzen.

Zum Autor: Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronli­ne. Das Zentralorg­an des Neoliberal­ismus“.

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