Sorry, aber kein Mensch baut einen neuen Eisernen Vorhang
Eine kleine Replik auf Wolfgang Böhms Leitartikel „Die EU zieht sich hinter einen neuen Eisernen Vorhang zurück“– und eine Rehabilitierung der „Grenze“.
Niemand, der einigermaßen bei Trost ist, wird darüber in Jubel ausbrechen, dass Polen seit Wochen seine EU-Außengrenze zu Weißrussland mit Stacheldraht und Mauern befestigt hat, als Antwort auf die jüngsten Versuche von Migranten, diese Grenze mithilfe von Gewaltanwendung zu durchbrechen. Mehr noch: Der Umstand, dass in großen Teilen Europas die Grenzen bis zum Ausbruch der Pandemie zu bloßen Verwaltungslinien geworden sind, kann man als schönes Stück zivilisatorischen Fortschritts bezeichnen.
Insofern ist nachvollziehbar, dass der geschätzte Kollege Wolfgang Böhm jüngst in dieser Zeitung kritisiert hat, „Die EU zieht sich hinter einen neuen Eisernen Vorhang zurück“, und der Union vorwirft, sie betreibe eine Politik der „Abkehr von einer offenen Gesellschaft“.
So verständlich ist, dass das Herz jedes überzeugten Anhängers dieser offenen Gesellschaft blutete, wenn neue Mauern hochgezogen werden: Historisch ist der Vergleich der heutigen polnischen Grenzzäune mit dem Eisernen Vorhang der kommunistischen Diktaturen etwas sehr gewagt. Um nicht zu sagen: ziemlich ahistorisch.
Denn es ist ein Unterschied, ob ein Staat seine eigene Bevölkerung einmauert und für den Fall der Flucht mit dem Erschießen bedroht, wie das beim Eisernen Vorhang der Fall war – oder aber sein eigenes Territorium vor dem unkontrollierten und gewaltsamen Eindringen von Fremden schützt, die illegal handeln und meinen, ein Bolzenschneider sei tauglicher Ersatz für ein Visum. Es ist in etwa der Unterschied zwischen jemandem, der ein fremdes Kind gegen seinen Willen im Keller gefangen hält – und jemandem anderen, der sein Haus mittels Gartenzauns, Sicherheitstür und Alarmanlage vor Einbrechern zu schützen sucht.
Den Eisernen Vorhang der kommunistischen Diktaturen mit den heutigen Grenzsicherungen demokratischer Rechtsstaaten gleichzusetzen, stellt auch eine gewisse Respektlosigkeit gegenüber den Millionen Opfern dieser Regimes dar. Denn junge Menschen, die jene Diktaturen
nur noch aus Opas Erzählungen kennen, können auf die Idee kommen, der Kommunismus und der Eiserne Vorhang seien nicht gar so schlimm gewesen, wenn es sich dabei um so etwas Ähnliches wie heute an der EU-Außengrenze gehandelt hat, wo im schlimmsten Fall Tränengas verschossen wird. Ich bin mir sicher, dass Kollege Böhm eine derartige Verharmlosung und Relativierung der kommunistischen Diktaturen fernliegt – sein Vergleich ist aber leider geeignet, bei historisch weniger Bewanderten genau diese Assoziation hervorzurufen.
Das gilt bis zu einem gewissen Grad auch für seine Bedenken, die Grenzsicherungsanlagen seien Symbol einer „Abkehr von einer offenen Gesellschaft“. Natürlich, da ist Böhm zuzustimmen, sind Mauern und Nato-Stacheldraht als Symbol einer offenen Gesellschaft nicht besonders tauglich. Und trotzdem lehrt uns die Geschichte, dass gerade eine „offene Gesellschaft“nicht überleben kann, ohne sich ausreichend abzugrenzen gegen Nachbarn oder Eindringlinge, die es mit der „offenen Gesellschaft“jetzt nicht so stark haben.
Historisch ist der Vergleich mit dem Eisernen Vorhang der kommunistischen Diktaturen etwas sehr gewagt.
Geradezu prototypisch gilt das für einen nicht unerheblichen Teil der Migranten aus der arabischen/islamischen Welt. Dass jemand, der dort sozialisiert worden ist, ohne eigenes Verschulden andere Vorstellungen etwa über Frauen, Homosexuelle, Juden oder über den Stellenwert der Religion hat, wie es einer offenen Gesellschaft angemessen ist, wissen wir spätestens seit 2015 bis ins Detail. Leider ist seither klar geworden: Die teilweise Aufhebung der Grenzen für diese Migrantenströme hat die offene Gesellschaft nicht gestärkt, sondern eher gestresst. Nicht zuletzt dadurch, dass sie eine Art von Immunreaktion hervorgerufen hat, die zum Erstarken rechtsextremer Parteien geführt hat.
„Jedes Plädoyer für Vielfalt, Differenz und Pluralität setzt Grenzen voraus“, sagt Philosoph Konrad Paul Liessmann. Manchmal auch befestigte Grenzen.
Zum Autor: Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronline. Das Zentralorgan des Neoliberalismus“.
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