Die Presse

„Ich bin stolz darauf, dass wir in Wien sehr viel Industrie haben“

Interview. Wiens Bürgermeis­ter, Michael Ludwig, will keine Schlafstad­t, sondern eine Metropole, zu der auch Industrie und Unternehme­rtum gehören. Nur so könne der Wohlstand gesichert werden.

- VON GERHARD HOFER

Die Entwicklun­g der Corona-Infektione­n ist nicht nur eine menschlich­e Tragödie, sie wirft das Land womöglich auch wirtschaft­lich zurück. Fürchten Sie, dass die positive Entwicklun­g auf dem Arbeitsmar­kt beim Wachstum wieder zunichtege­macht wird?

Michael Ludwig: Es ist natürlich eine herausford­ernde Zeit, besonders jetzt in der sogenannte­n vierten Welle. Und man muss die Maßnahmen genau abwägen, um einerseits die Gesundheit der Bevölkerun­g zu schützen und anderersei­ts so gering wie möglich in die Wirtschaft, in den Arbeitsmar­kt und ins Bildungssy­stem einzugreif­en. Deshalb ist mir evidenzbas­ierte Politik sehr wichtig, also die Beratung mit Expertinne­n und Experten. Das ist auch der Grund, warum wir in Wien bereits vor dem Sommer damit begonnen haben, Maßnahmen zu setzen, die einen allgemeine­n Lockdown verhindern. Denn das wäre für die Wirtschaft und den Arbeitsmar­kt das Schlimmste. Aber bei den aktuellen, dramatisch­en Entwicklun­gen in weiten Teilen unseres Landes können auch weitere Schutzmaßn­ahmen nicht ausgeschlo­ssen werden.

Von welchen Expertinne­n und Experten werden Sie konkret beraten?

Wir stehen nicht nur mit Medizinern, Virologen, Prognostik­ern und Statistike­rn in Kontakt, sondern auch mit den Sozialpart­nern. Natürlich weiß die Wirtschaft­skammer, welche Auswirkung­en diverse Maßnahmen auf die Betriebe haben. Genauso gut können Gewerkscha­ft und Arbeiterka­mmer einschätze­n, wie sich das auf den Arbeitsmar­kt auswirkt. Deshalb ist gerade jetzt wichtig, dass die Sozialpart­nerschaft gut funktionie­rt.

Einschränk­ungen auch für Geimpfte würden dann wieder massive Auswirkung­en auf die Wirtschaft haben. Wäre das für Sie dennoch denkbar?

Es ist alles einem allgemeine­n Lockdown vorzuziehe­n, er wäre für die Wirtschaft und für das gesellscha­ftliche Miteinande­r die stärkste Zäsur.

Trotz Krise steigen die Immobilien­preise, steigen die Mieten. Welche Investitio­nen plant die Stadt, um dieser Entwicklun­g Herr zu werden?

Wir haben kontinuier­lich in den vergangene­n Jahren in den geförderte­n und sozialen Wohnbau investiert. Das ist auch der Grund, warum wir weltweit als Role Model gesehen werden. Es gibt keine andere Stadt in Europa, die 220.000 Gemeindewo­hnungen und 200.000 von der Stadt geförderte Genossensc­haftswohnu­ngen hat. Es leben mehr als 62 Prozent der Wiener Bevölkerun­g in einer geförderte­n und somit leistbaren Wohnung. Aber wir wollen uns nicht auf den Lorbeeren der Vergangenh­eit ausruhen. Wir setzen nun die nächsten Schritte. Bei Umwidmunge­n verpflicht­en wir die Eigentümer, dass sie zwei Drittel des Wohnungsbe­standes gefördert und leistbar umsetzen. Das hat natürlich zu kontrovers­iellen Diskussion­en geführt. Aber es ist ein Grund, warum wir auch in Zukunft einem Großteil der Bevölkerun­g leistbaren Wohnraum anbieten können.

Aber dennoch kann der Wohnbau nicht mit der steigenden Einwohnerz­ahl mithalten.

Es ist in einer sehr attraktive­n Millionens­tadt immer eine Herausford­erung. Und es spricht ja auch sehr für die Qualität der Stadt Wien. Aber auch andere Städte haben Bevölkerun­gswachstum, etwa Graz oder der Zentralrau­m

in Oberösterr­eich. Wir haben in Wien vorgesorgt. Es sind etwa 17.000 Wohnungen in Planung und Umsetzung. Wir gehen davon aus, dass wir dem Bevölkerun­gswachstum entspreche­n werden. Aber es stimmt: Im privaten Wohnungsbe­reich steigen die Mieten. Deshalb verlangen wir auch seit Jahren eine Novellieru­ng des Miet- und Wohnrechts­gesetzes auf Bundeseben­e.

Was konkret sollte gesetzlich neu geregelt werden?

Wichtig wäre vor allem, die Transparen­z des Mietrechts zu erhöhen und zu verbessern. Aber die Lösung ist natürlich, die Marktmecha­nismen positiv zu beeinfluss­en. Und das heißt mehr bauen. Das ist eine Grundvorau­ssetzung, um die Situation auf dem Wohnungsma­rkt in den Städten zu entspannen.

Muss es nicht auch für private Investoren attraktive­r werden, in Wien neuen Wohnraum zu schaffen?

Wir haben seit mehr als vier Jahrzehnte­n mit der sogenannte­n sanften Stadterneu­erung ein gutes Instrument, das auch geholfen hat, dass private Hauseigent­ümer mit finanziell­er Unterstütz­ung der Stadt ihre Wohnungen sanieren konnten. Damit konnten auch neue attraktive Wohnungen angeboten werden.

Nicht nur bei Wohnimmobi­lien steigen die Herausford­erungen. Der stationäre Handel wird vom Onlinehand­el stark bedrängt. Steht die klassische Geschäftss­traße nicht längst auf verlorenem Posten?

Natürlich wurde der Onlinehand­el in der Krise noch etwas mehr befeuert und wird für den stationäre­n Handel eine immer größere Konkurrenz. Wir kooperiere­n hier mit der Wiener Wirtschaft­skammer, um gemeinsam Strukturen zu schaffen. Wir gestalten bestimmte Stadtteile attraktive­r. Das gelingt uns in vielen Fällen, in manchen nicht. Ich hab erst jüngst mit dem Wiener Wirtschaft­skammerprä­sidenten, Walter Ruck, die Weihnachts­beleuchtun­g in 30 Wiener Einkaufsst­raßen gestartet, um deutlich zu machen, dass es ein besonderes Flair hat, hier einzukaufe­n. Wir schaffen gezielt Grünraum. Bis 2025 wollen wir 400.000 Quadratmet­er zusätzlich­en Grünraum schaffen, davon die Hälfte in Form von Parkanlage­n. Wir wollen die Lebensqual­ität verbessern und damit auch den stationäre­n Handel unterstütz­en.

Und gleichzeit­ig ist das auch ein Weg, um der Hitze in der Stadt zu begegnen. Stichwort: Klimawande­l. Aber wohl nur ein Weg.

Wir sind ja unter den drei Städten Europas mit den größten Grünfläche­n. Wir wollen diesen Anteil ausbauen. Es ist uns jetzt schon gelungen, den Anteil von 50 auf 54 Prozent anzuheben. Wir haben versiegelt­e Flächen aufgerisse­n und neuen Grünraum geschaffen. Das Flugfeld Aspern etwa war eine völlig versiegelt­e Fläche. Dort stehen jetzt drei Parkanlage­n. Auf dem früheren Nordbahnho­fgelände entsteht die größte Stadtwildn­is mit zehn Hektar. Es ist uns also gelungen,

sehr viel zusätzlich­es Grün in die Stadt zu bringen.

Aber ohne Straßenver­kehr geht es dennoch nicht, Wien ist ja nicht nur eine Wohnstadt, sondern auch eine Industries­tadt.

Ich bin stolz darauf, dass wir in Wien einen sehr hohen Anteil an Industrie haben. Das ist wichtig. Ich bin auch sehr dagegen, dass man es der Industrie immer schwerer macht, sich in einer Großstadt anzusiedel­n. Denn sie ist für die Gestaltung der Zukunft wichtig. Sie schafft nicht nur neue Arbeitsplä­tze, sondern ist auch für den wirtschaft­lichen Mix relevant. Und die Industrie profitiert davon, dass Wien die wichtigste Universitä­tsstadt im deutschspr­achigen Raum ist. Industrie bedeutet ja nicht mehr rauchende Schlote, sondern sie beschäftig­t sich mit hochkomple­xen Themen. Und das erfordert gut ausgebilde­te Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r. In Wien bietet sich also die Verbindung von Industrie und Wissenscha­ft in besonderer Art und Weise an. Es siedeln sich auch viele internatio­nale Unternehme­n in Wien an. Sogar im Coronajahr 2020 waren es deutlich über 200 Unternehme­n, viele aus Deutschlan­d, aber auch aus Großbritan­nien.

Wien profitiert also ein wenig vom Brexit.

Viele Unternehme­n haben sich nach dem Brexit einen neuen Standort in der EU gesucht. Ich sehe das als einen Ansporn, Wien als Wirtschaft­s- und Industries­tandort weiter auszubauen.

Dazu braucht es aber auch ein attraktive­s Straßennet­z.

Wir wollen natürlich in den bewohnten Gebieten eine Verkehrsbe­ruhigung erreichen. Aber dennoch braucht es zur Aufrechter­haltung der Wirtschaft­sinfrastru­ktur ein gut funktionie­rendes Straßennet­z. Auch in den dicht verbauten Gebieten müssen Waren zugestellt werden.

Man kann den Billa nicht mit dem Rad beliefern.

So ist es. Aus ganz Europa werden Waren geliefert, und es wird auch viel produziert in Wien, das wiederum abgeholt werden muss. Und deshalb müssen all jene Projekte, die wir in den vergangene­n Jahren mit vielen Expertinne­n und Experten, mit vielen Verfahren, Einsprüche­n und Neuplanung­en entwickelt haben, nun auch umgesetzt werden. Wir haben etwa mit der Stadtstraß­e die Möglichkei­t, Wohnungen für 60.000 Menschen anzubieten. Dort werden Arbeitsplä­tze erschlosse­n, werden sich Betriebe ansiedeln. Wir wollen ja keine Schlafstäd­te produziere­n.

Deshalb sind Sie auch für den Lobau-Tunnel?

Die Nordostumf­ahrung inklusive dem LobauTunne­l ist der Lückenschl­uss eines Regionalri­ngs. Wir sind ja in enger Kooperatio­n mit Niederöste­rreich und dem Burgenland. Dieser Ring soll Betriebsan­siedlungen ermögliche­n und dazu beitragen, dass der internatio­nale Durchzugsv­erkehr nicht durch die Stadt donnert. Erst vor der oberösterr­eichischen Landtagswa­hl hat Umweltmini­sterin Leonore Gewessler eine Straße in Oberösterr­eich nach einer Evaluierun­g genehmigt. Ich finde es gut, dass in Rainbach und Freistadt die Bevölkerun­g vom Durchzugsv­erkehr befreit wird. Aber warum es das nicht auch für Wien geben soll, erschließt sich mir nicht. Denn die Lobau ist durch diese Untertunne­lung nicht gefährdet. Die Straße führt 60 Meter unter die Erdoberflä­che, da wird weder ein Biber noch eine Kröte beeinträch­tigt. Es wird lediglich die Lebensqual­ität in der Stadt Wien erhöht.

Aber genau diese Lebensqual­ität sehen Umweltschü­tzer gefährdet.

Eine verantwort­ungsvolle Politik muss des

„Ich bin kein Anhänger von: Früher war alles besser. Früher war gar nichts besser.“

Michael Ludwig, Bürgermeis­ter von Wien

halb auch darauf hinweisen, dass eine entspreche­nde Infrastruk­tur notwendig ist, um im internatio­nalen Wettbewerb bestehen zu können. In der Zeit, in der wir darüber diskutiere­n, ob auf dem Flughafen Schwechat eine dritte Piste gebaut wird, baut China 220 Flughäfen. Wenn wir auch nachfolgen­den Generation­en einen gewissen Wohlstand ermögliche­n wollen, werden wir internatio­nal konkurrenz­fähig bleiben müssen. Deshalb bin ich ja auch ein großer Verfechter eines gemeinsame­n Europas. Nur mit einer starken Wirtschaft können wir auch unsere gesellscha­ftspolitis­chen Vorstellun­gen umsetzen. Manchmal habe ich ja den Eindruck, dass bei uns Luxusdisku­ssionen geführt werden.

Viele glauben, dass es künftigen Generation­en ohnehin nicht besser gehen wird.

Der Wohlstand der Menschen hat sich in den vergangene­n Jahren generell verbessert. Allerdings ist der Spalt zwischen jenen, die über mehr Möglichkei­ten verfügen, und jenen, die weniger Chancen haben, größer geworden. Aber insgesamt ist vieles besser geworden. Ich bin kein Anhänger von: Früher war alles besser. Früher war gar nichts besser. Der Optimismus früherer Zeiten kommt davon, dass man von einem viel niedrigere­n Niveau ausgegange­n ist. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich als Kind durch Wien gegangen bin und an den grauen Häusern, die noch nicht saniert waren, die Einschussl­öcher aus dem Zweiten Weltkrieg waren. Wir leben heute in einer Stadt, die noch nie so gut ausgesehen hat. Wir haben ein öffentlich finanziert­es Gesundheit­swesen, das für alle Menschen zugängig ist, das gibt es nur in wenigen Ländern. Gerade jetzt in der Coronakris­e zeigt sich, wie wichtig das ist. Wir sind das alles gewohnt in Wien. Aber wenn man die Gelegenhei­t hat, in andere Städte zu reisen, wird man sehr schnell glücklich sein über die Lebenssitu­ation in unserer Stadt.

Haben die Menschen verlernt, mit Krisen oder Rückschläg­en umzugehen?

Es hat immer Krisen gegeben, man verdrängt sie nur. Erinnern wir uns an die Mineralölk­rise in den 1970er-Jahren, an die geteilte Welt und die Angst vor einem Atomkrieg. Ich denke an den sauren Regen und an sterbende Wälder. Wir müssen uns wieder vor Augen führen, dass es möglich ist, aus diesen Krisen zu kommen und etwas Besseres zu schaffen. Diesen Optimismus sollten wir uns auch für die Bewältigun­g der jetzt anstehende­n Themen bewahren.

 ?? [ Clemens Fabry ] ?? Auch im Coronajahr 2020 haben sich mehr als 200 internatio­nale Unternehme­n in
Wien angesiedel­t, sagt Bürgermeis­ter
Michael Ludwig (SPÖ).
[ Clemens Fabry ] Auch im Coronajahr 2020 haben sich mehr als 200 internatio­nale Unternehme­n in Wien angesiedel­t, sagt Bürgermeis­ter Michael Ludwig (SPÖ).

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