Die Archivare der Kriegsverbrechen in Syrien
Beweissammlung. Jeff Deutch vom Syrian Archive erzählt, wie seine Organisation in Videos Belege für Menschenrechtsverletzungen sucht.
Wien. Es ist eine besonders perfide Taktik: erst ein massiver Angriff; dann – kurz danach – ein Zweitschlag, um auch möglichst viele herbeieilende Helfer zu treffen. Damit wird Terror unter den Rettungskräften verbreitet und die Versorgung der Opfer erschwert. Angewandt wird diese grausame Methode nicht nur von Jihadisten bei Sprengstoffattentaten. Auch staatliche Kriegsparteien gehen so vor. Das hat die Organisation Syrian Archive dokumentiert, die seit Jahren Beweise für Kriegsverbrechen in Konfliktgebieten wie Syrien und Jemen sammelt.
In ihrem Bericht über Attacken auf Spitäler in Syrien beschreibt die Organisation derartige Doppelschläge. Und sie schildert, wie parallel zu Großangriffen medizinische Infrastruktur gezielt zerstört wird. „Am 4. April griffen syrische Regierungstruppen das Dorf Khan Sheikhoun mit Saringas an. Dabei töteten sie 98 Menschen und verletzten 300 Personen“, heißt es im Report. „Am selben Tag – viereinhalb Stunden später – trafen neun Luftschläge syrischer Regierungstruppen oder russischer Kräfte das nahe gelegene al-Rahmeh-Spital.“
Das Syrian Archive berichtet von 410 Angriffen auf 270 medizinische Einrichtungen in Syrien zwischen 2011 und 2020. Und es trägt auch Informationen zu anderen Verbrechen in dem vom Krieg zerrütteten Land zusammen: Zeugenaussagen, Daten, Videos.
Wer ist die Quelle der Bilder?
„Bis jetzt haben wir dreieinhalb Millionen Aufnahmen zu Syrien gesammelt“, schildert Jeff Deutch, Mitbegründer des Syrian Archive, der „Presse“. Deutch war zuletzt in Österreich, um an der Tagung International Criminal Law before Domestic Courts teilzunehmen. Sie wurde vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Grund- und Menschenrechte und dem Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien veranstaltet.
„Wir sammeln auf täglicher Basis Tausende Daten“, berichtet Deutch. Das sind meist Aufnahmen, die im Internet kursieren. „Wir müssen dann genau klären: Wer ist die Quelle dafür und wie zuverlässig ist sie? Wo und wann wurden die Bilder aufgenommen und wer hat sie ins Internet gestellt?“Beim Abgleichen orientieren sich die Rechercheure etwa an markanten Objekten in der Landschaft wie Hügeln, auffälligen Gebäuden oder Straßenkreuzungen.
Grund für das permanente Zusammentragen von Daten: „Man weiß vorher nicht, was später relevant werden kann und welches Potenzial die gesammelten Informationen haben“, erklärt Deutch. Wenn dann Kriegsverbrechen gemeldet werden, gibt es bei der Suche nach den Tätern bereits Anhaltspunkte. Weil schon Material darüber vorliegt, welche Truppenteile oder Milizen sich in den Tagen davor im betroffenen Gebiet bewegt haben. Möglich ist das nur durch enge Kooperation mit ortskundigen syrischen Rechercheuren und Militärexperten. Sie identifizieren anhand von Uniformen und Abzeichen beteiligte Einheiten, ordnen Kampfflugzeuge zu und stellen fest, welche Art von Bomben eingesetzt wurde.
Gegründet wurde Syrian Archive 2014 in Berlin. Bereits in den ersten Jahren des Syrien-Konflikts kursierten unzählige Videos und Fotos vom Krieg in den sozialen Netzwerken. Schon damals gab es Versuche, das Material zu sammeln und zu verifizieren. Facebook und Twitter nahmen aber – vorübergehend – wieder viele der Aufnahmen von ihren Plattformen. Unter anderem als Maßnahme gegen die Verbreitung von sogenanntem Terror-Content.
Das Syrian Archive hat mittlerweile seine eigene Datenbank aufgebaut, um Beweise zu speichern. Die stellt sie auch der internationalen Justiz zur Verfügung. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat derzeit für Syrien noch kein Mandat. Syrian Archive kooperiert aber mit dem sogenannten Mechanismus der Vereinten Nationen für die Untersuchung und Verfolgung von schwersten Kriegsverbrechen in Syrien seit März 2011 (IIIM). Diese Kommission sammelt bereits jetzt Beweise für Verbrechen in Syrien – falls der Strafgerichtshof doch noch die Zuständigkeit erhält oder andere Gerichte Prozesse anstrengen.
„Kampf gegen Revisionismus“
„Wir versuchen, auf die Verbrechen aller Seiten zu schauen und unparteiisch zu sein“, sagt Deutch. Für ihn ist klar: „Die Täter müssen zur Verantwortung gezogen werden.“Er kann sich aber noch weitere Formen der Aufarbeitung vorstellen – etwa Wahrheitskommissionen. Sie wurden nach dem Ende des Apartheidregimes in Südafrika oder nach dem Völkermord in Ruanda eingesetzt.
„Wir könnten unser Material solchen Kommissionen zur Verfügung stellen – und für Erinnerungsarbeit und Vergangenheitsbewältigung“, sagt Deutch. Er sieht die Dokumentation des Syrian Archive auch als Instrument im „Kampf gegen Revisionismus“. „Denn das beginnt schon jetzt, dass manche behaupten, bestimmte Verbrechen in Syrien habe es nie gegeben.“