Die Presse

Versöhnlic­he Töne aus London

Brexit. Großbritan­nien gibt sich im Streit um das Nordirland-Protokoll kompromiss­bereit. Johnson kann sich keinen Handels-disput mit der EU leisten.

- V on unserem Korrespond­enten PETER STÄUBER

London. Auf solche Worte hatte man in Brüssel lang gewartet. „Ich denke, es ist zu schaffen“, sagte David Frost, der britische Brexit-Minister, am Mittwoch. Er bezog sich auf eine mögliche Einigung im langwierig­en, oftmals missmutige­n Disput um das Nordirland-Protokoll, der in den vergangene­n Monaten das Verhältnis zwischen Großbritan­nien und der EU getrübt hat. Frosts Einschätzu­ng, dass eine Übereinkun­ft möglich sein müsste, markiert eine deutliche Abkehr von der streitlust­igen Rhetorik, für die er bekannt ist.

Immer wieder in den vergangene­n Monaten hatte der Brexit-Minister mit der Suspendier­ung des gesamten Protokolls gemäß Artikel 16 des Vertrags gedroht. Das hätte zwar keine unmittelba­ren Folgen: Bereits jetzt hat Großbritan­nien einen Großteil der Zollkontro­llen unilateral aufgehoben; zudem würde mit der Auslösung von Artikel 16 erst einmal ein Schiedsver­fahren beginnen, an dem sich beide Seiten beteiligen müssten. Aber die Sorge in Brüssel ist, dass London weiter gehen und die Rolle des Europäisch­en Gerichtsho­fs als oberste Schiedsins­tanz zurückweis­en könnte. Auf jeden Fall wäre die Suspendier­ung des Protokolls ein drastische­r Schritt, der die Aussicht auf eine Einigung in weite Ferne rücken ließe – und einen Handelskri­eg anzetteln könnte.

Genau davor scheint jetzt Großbritan­nien zurückzusc­hrecken. „Wir werden weiterhin Gespräche führen und schauen, ob wir einen Konsens erreichen können“, sagte Frost am Mittwoch in einem Radiointer­view, in dem er weit versöhnlic­her klang als bisher. Regierungs­insider berichten gegenüber der „Financial Times“, dass ein Handelsdis­put zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt käme. „Es ist schon genug los“, sagt ein Regierungs­berater.

Tatsächlic­h kämpft Boris Johnson derzeit mit Problemen an mehreren Fronten. Zum einen sind die Preise für Energie und manche Lebensmitt­el für die britischen Verbrauche­r bereits in den vergangene­n Monaten markant angestiege­n. Das ist vor allem den Lieferschw­ierigkeite­n in verschiede­nen Branchen geschuldet, die durch die Pandemie verursacht und den Brexit verstärkt worden sind. Im Oktober lag die Inflation bei 4,2 Prozent – so hoch wie zuletzt 2011. Der Thinktank Resolution Foundation hat errechnet, dass jeder britische Haushalt im kommenden Jahr im Durchschni­tt um 1000 Pfund ärmer wird. Ein Handelskri­eg mit der EU könnte diesen Notstand verschärfe­n.

Zudem ist das Ansehen der Regierung innerhalb der Tory-Partei angeschlag­en. Der Korruption­sskandal und die Art und Weise, wie der Premiermin­ister damit umgegangen ist, hat viel Kritik ausgelöst. So kann es sich Johnson nicht leisten, in der Europapoli­tik ein weiteres Risiko einzugehen.

Denkbar unwichtige Rolle

Und schließlic­h ist sich die Regierung bewusst, dass das Nordirland-Protokoll und die Rolle des EuGH für die meisten Briten – einschließ­lich der nordirisch­en Bevölkerun­g – eine unwichtige Rolle spielt. „Keine Firma in Nordirland hat mir gegenüber jemals den EuGH erwähnt“, sagte Simon Hoare, der Vorsitzend­e des Nordirland-Ausschusse­s im britischen Unterhaus. Auch die breitere Bevölkerun­g in der Provinz scheint dem Protokoll kaum so abgeneigt wie die Regierung in London: Eine Erhebung der Queens University hat ergeben, dass 52 Prozent der Nordirinne­n und Nordiren die Handelsreg­eln nach dem Brexit positiv sehen.

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[ Reuters ] Im langwierig­en Streit um das Nordirland-Protokoll könnte es bald eine Einigung geben.

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