Versöhnliche Töne aus London
Brexit. Großbritannien gibt sich im Streit um das Nordirland-Protokoll kompromissbereit. Johnson kann sich keinen Handels-disput mit der EU leisten.
London. Auf solche Worte hatte man in Brüssel lang gewartet. „Ich denke, es ist zu schaffen“, sagte David Frost, der britische Brexit-Minister, am Mittwoch. Er bezog sich auf eine mögliche Einigung im langwierigen, oftmals missmutigen Disput um das Nordirland-Protokoll, der in den vergangenen Monaten das Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU getrübt hat. Frosts Einschätzung, dass eine Übereinkunft möglich sein müsste, markiert eine deutliche Abkehr von der streitlustigen Rhetorik, für die er bekannt ist.
Immer wieder in den vergangenen Monaten hatte der Brexit-Minister mit der Suspendierung des gesamten Protokolls gemäß Artikel 16 des Vertrags gedroht. Das hätte zwar keine unmittelbaren Folgen: Bereits jetzt hat Großbritannien einen Großteil der Zollkontrollen unilateral aufgehoben; zudem würde mit der Auslösung von Artikel 16 erst einmal ein Schiedsverfahren beginnen, an dem sich beide Seiten beteiligen müssten. Aber die Sorge in Brüssel ist, dass London weiter gehen und die Rolle des Europäischen Gerichtshofs als oberste Schiedsinstanz zurückweisen könnte. Auf jeden Fall wäre die Suspendierung des Protokolls ein drastischer Schritt, der die Aussicht auf eine Einigung in weite Ferne rücken ließe – und einen Handelskrieg anzetteln könnte.
Genau davor scheint jetzt Großbritannien zurückzuschrecken. „Wir werden weiterhin Gespräche führen und schauen, ob wir einen Konsens erreichen können“, sagte Frost am Mittwoch in einem Radiointerview, in dem er weit versöhnlicher klang als bisher. Regierungsinsider berichten gegenüber der „Financial Times“, dass ein Handelsdisput zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt käme. „Es ist schon genug los“, sagt ein Regierungsberater.
Tatsächlich kämpft Boris Johnson derzeit mit Problemen an mehreren Fronten. Zum einen sind die Preise für Energie und manche Lebensmittel für die britischen Verbraucher bereits in den vergangenen Monaten markant angestiegen. Das ist vor allem den Lieferschwierigkeiten in verschiedenen Branchen geschuldet, die durch die Pandemie verursacht und den Brexit verstärkt worden sind. Im Oktober lag die Inflation bei 4,2 Prozent – so hoch wie zuletzt 2011. Der Thinktank Resolution Foundation hat errechnet, dass jeder britische Haushalt im kommenden Jahr im Durchschnitt um 1000 Pfund ärmer wird. Ein Handelskrieg mit der EU könnte diesen Notstand verschärfen.
Zudem ist das Ansehen der Regierung innerhalb der Tory-Partei angeschlagen. Der Korruptionsskandal und die Art und Weise, wie der Premierminister damit umgegangen ist, hat viel Kritik ausgelöst. So kann es sich Johnson nicht leisten, in der Europapolitik ein weiteres Risiko einzugehen.
Denkbar unwichtige Rolle
Und schließlich ist sich die Regierung bewusst, dass das Nordirland-Protokoll und die Rolle des EuGH für die meisten Briten – einschließlich der nordirischen Bevölkerung – eine unwichtige Rolle spielt. „Keine Firma in Nordirland hat mir gegenüber jemals den EuGH erwähnt“, sagte Simon Hoare, der Vorsitzende des Nordirland-Ausschusses im britischen Unterhaus. Auch die breitere Bevölkerung in der Provinz scheint dem Protokoll kaum so abgeneigt wie die Regierung in London: Eine Erhebung der Queens University hat ergeben, dass 52 Prozent der Nordirinnen und Nordiren die Handelsregeln nach dem Brexit positiv sehen.