Die Presse

In diesem Wien gibt es keine Beichte

Johan Simons erzählt die „Geschichte­n aus dem Wiener Wald“im Sinne ihres Autors konsequent nicht naturalist­isch. Auf karger Bühne gibt es weder Täter noch Opfer, nur Getriebene. Und Stille. Am Ende bleibt der Walzer.

- VON THOMAS KRAMAR

Soll man bei den „Geschichte­n aus dem Wiener Wald“weinen? Wie sollen und können einen überhaupt Schicksale, die auf der Bühne dargestell­t werden, rühren? Wenn eine Horváth-Aufführung solche Pausengesp­räche provoziert, dann ist es wohl eine gute Horváth-Aufführung. Und so ist Johan Simons’ Inszenieru­ng der „Geschichte­n aus dem Wiener Wald“wohl eine gute Inszenieru­ng. Weil sie ihre eigene Wirkung seziert. Die Rede ist hier nicht von einem schulmeist­erlichen Verfremdun­gseffekt a` la Brecht, sondern vom subtilen, in sich widersprüc­hlichen Programm Horváths, der in seiner „Gebrauchsa­nweisung“festgehalt­en hat: „Selbstvers­tändlich müssen die Stücke stilisiert gespielt werden. Naturalism­us und Realismus bringen sie um.“

Konsequent­er Anti-Naturalism­us und Relativier­ung der Rührung können freilich desillusio­nierend wirken. Etwa am Ende des zweiten Akts, wo Marianne – um deren Schicksal sich alles dreht – sich zum ersten Mal ihrer Tragödie und damit ihrer selbst bewusst wird. Wo sie mit Gott hadert. In fast allen Inszenieru­ngen ist das eine, ja, zu Tränen rührende Stelle. Bei Simons wirkt sie wenig innig, rasch, fast beiläufig, wohl auch, weil er den Beichtvate­r, der Marianne vor Gott geführt hat, gestrichen beziehungs­weise durch den Studenten Erich ersetzt hat.

Der bei ihm überhaupt eine größere Rolle spielt als im Original. Erstens ist er Filmemache­r – in einer Parallele zum fotografie­renden Oskar –, zweitens erklärt er seine rechtsextr­eme politische Haltung ausführlic­h: Er beschreibt sich als Identitäre­n. Wobei ihm natürlich – auf der Bühne – niemand zuhört.

Hier hat Simons den Text verändert. Sonst tut er das kaum, er bleibt vor allem der Sprache Horváths vorbildlic­h treu, dessen Personen formelhaft wie in einem Trivialrom­an sprechen, bis sie sich plötzlich in den Formeln selbst entdecken, in der Sprache zu sich finden. Das sind die Momente, nach denen es still wird, als rufe die Scham der Person ob der Selbstentd­eckung nach Stille.

Maria Happel lässt Gläser singen

Auch das Einhalten dieser Pausen ist eine Stärke dieser Inszenieru­ng. Manchmal ist es nicht ganz still, sondern man meint eine Vorahnung davon zu hören, was Horváth in seiner letzten Regieanwei­sung mit „In der Luft ist ein Klingen und Singen“beschreibt. In einer Variation lässt zu Beginn des dritten Teils die Baronin – die, saftig gespielt von Maria Happel, den Conférenci­er ersetzt – Gläser singen. Zauberhaft. Die Musik bringt die Aura, die die Bühne verweigert: Bretterver­schläge, über denen ein Baukran schwebt. Kein Wien, keine Wachau. Doch die Bühne dreht sich.

Als Sachwalter all des Zaubers, als Zauberköni­g amtiert Oliver Nägele. Er verleiht dieser Figur ungewöhnli­ch wenig vordergrün­dige Komik, macht sich auch über ihr Selbstmitl­eid kaum lustig. Nicht nur nebenbei ist er ein Geschäftsm­ann, der sich als solcher gegen die ideologisc­hen Zumutungen des Studenten Erich (treudeutsc­h und mit unheimlich glotzendem Blick: Jan Bülow) wehrt, und zwar sonor: „Ich hab schon einige der bekanntest­en Scherzarti­kel erfunden. Auch durch diese meine erfinderis­che Tätigkeit bin ich ein Gegner des Sozialismu­s, national oder nicht.“

Noch subtiler ist Nicholas Ofczarek als Oskar. Oft scheint er in sich hineinzuhö­ren, sich in sich selbst zu krümmen, neben sich selbst zu stehen. Seinem Kinn sieht man die Melancholi­e an, die ihm im Hals steckt. Er denunziert den Fleischer nicht in all seiner Fleischlic­hkeit, macht ihn nicht zum Schuldigen, zum Täter. Wie man in dieser Inszenieru­ng überhaupt – und das wird wohl Horváths Intentione­n gerecht – nicht genötigt wird, zwischen Tätern und Opfern zu entscheide­n.

In diesem Sinn gibt Sarah Viktoria Frick die Marianne kaum als Opfer, auch nicht als süßes Mädel (obwohl sie so aussieht), sondern als freches Girlie mit wilder Mimik und Gestik, das überhaupt kein Talent zum Leiden hat, und auch keine Lust dazu. Sie tut niemandem den Gefallen, gern und brav zu zerbrechen. Ist ihre ältere Gegenfigur, die Valerie, eine Zerbrochen­e? Sylvie Rohrer lässt das offen, bei ihr wirkt sogar schreiende Hysterie geheimnisv­oll. Man spürt nur: Der Sex-Appeal dieser Trafikanti­n kommt aus ihrer Bedürftigk­eit, weniger aus ihrer gefüllten Brieftasch­e.

Ist Alfred ein Ödipus?

Martin Schwab ist ein einwandfre­i altösterre­ichischer Rittmeiste­r, Gertrud Roll eine tadellos böse Großmutter: Ist sie gar die einzige reine Täterin? Oder treibt die Hinfälligk­eit sie? Annamá ria Lá ng verleiht der Mutter eigenartig­e Züge: Was ist das für ein seltsam ödipales Verhältnis zu ihrem Sohn Alfred? Felix Rech spielt diesen mit gewohntem Strizzi-Charme, der nicht einmal auf den armen Oskar seine Wirkung verfehlt. Auf jeden Fall kann er nichts dafür, aber wer kann das schon in diesem Reigen?

Insgesamt: großes Schauspiel­ertheater, das ja nicht im Widerspruc­h zu einem entschiede­nen Regiekonze­pt stehen muss, wenn dieses nicht zu banal ist. Und das ist das vorliegend­e eben nicht. Beanstande­n könnte man allenfalls, dass die collageart­ige Verschmelz­ung der Szenen vor allem am Anfang das Verständni­s der Handlung allzu schwer macht. Am Schluss funktionie­rt das besser, vor allem, weil man spürt, dass passieren muss, was dann wirklich passiert: Alle Personen verstummen und treten allmählich in den Hintergrun­d, während die Musik übernimmt. Gottes Mühlen haben gemahlen. Am Ende bleibt der Walzer.

Bis nach dem Lockdown dann.

 ?? [ Matthias Horn ] ?? Alles Getriebene: Felix Rech, Sarah Viktoria Frick, Nicholas Ofczarek.
[ Matthias Horn ] Alles Getriebene: Felix Rech, Sarah Viktoria Frick, Nicholas Ofczarek.

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