In diesem Wien gibt es keine Beichte
Johan Simons erzählt die „Geschichten aus dem Wiener Wald“im Sinne ihres Autors konsequent nicht naturalistisch. Auf karger Bühne gibt es weder Täter noch Opfer, nur Getriebene. Und Stille. Am Ende bleibt der Walzer.
Soll man bei den „Geschichten aus dem Wiener Wald“weinen? Wie sollen und können einen überhaupt Schicksale, die auf der Bühne dargestellt werden, rühren? Wenn eine Horváth-Aufführung solche Pausengespräche provoziert, dann ist es wohl eine gute Horváth-Aufführung. Und so ist Johan Simons’ Inszenierung der „Geschichten aus dem Wiener Wald“wohl eine gute Inszenierung. Weil sie ihre eigene Wirkung seziert. Die Rede ist hier nicht von einem schulmeisterlichen Verfremdungseffekt a` la Brecht, sondern vom subtilen, in sich widersprüchlichen Programm Horváths, der in seiner „Gebrauchsanweisung“festgehalten hat: „Selbstverständlich müssen die Stücke stilisiert gespielt werden. Naturalismus und Realismus bringen sie um.“
Konsequenter Anti-Naturalismus und Relativierung der Rührung können freilich desillusionierend wirken. Etwa am Ende des zweiten Akts, wo Marianne – um deren Schicksal sich alles dreht – sich zum ersten Mal ihrer Tragödie und damit ihrer selbst bewusst wird. Wo sie mit Gott hadert. In fast allen Inszenierungen ist das eine, ja, zu Tränen rührende Stelle. Bei Simons wirkt sie wenig innig, rasch, fast beiläufig, wohl auch, weil er den Beichtvater, der Marianne vor Gott geführt hat, gestrichen beziehungsweise durch den Studenten Erich ersetzt hat.
Der bei ihm überhaupt eine größere Rolle spielt als im Original. Erstens ist er Filmemacher – in einer Parallele zum fotografierenden Oskar –, zweitens erklärt er seine rechtsextreme politische Haltung ausführlich: Er beschreibt sich als Identitären. Wobei ihm natürlich – auf der Bühne – niemand zuhört.
Hier hat Simons den Text verändert. Sonst tut er das kaum, er bleibt vor allem der Sprache Horváths vorbildlich treu, dessen Personen formelhaft wie in einem Trivialroman sprechen, bis sie sich plötzlich in den Formeln selbst entdecken, in der Sprache zu sich finden. Das sind die Momente, nach denen es still wird, als rufe die Scham der Person ob der Selbstentdeckung nach Stille.
Maria Happel lässt Gläser singen
Auch das Einhalten dieser Pausen ist eine Stärke dieser Inszenierung. Manchmal ist es nicht ganz still, sondern man meint eine Vorahnung davon zu hören, was Horváth in seiner letzten Regieanweisung mit „In der Luft ist ein Klingen und Singen“beschreibt. In einer Variation lässt zu Beginn des dritten Teils die Baronin – die, saftig gespielt von Maria Happel, den Conférencier ersetzt – Gläser singen. Zauberhaft. Die Musik bringt die Aura, die die Bühne verweigert: Bretterverschläge, über denen ein Baukran schwebt. Kein Wien, keine Wachau. Doch die Bühne dreht sich.
Als Sachwalter all des Zaubers, als Zauberkönig amtiert Oliver Nägele. Er verleiht dieser Figur ungewöhnlich wenig vordergründige Komik, macht sich auch über ihr Selbstmitleid kaum lustig. Nicht nur nebenbei ist er ein Geschäftsmann, der sich als solcher gegen die ideologischen Zumutungen des Studenten Erich (treudeutsch und mit unheimlich glotzendem Blick: Jan Bülow) wehrt, und zwar sonor: „Ich hab schon einige der bekanntesten Scherzartikel erfunden. Auch durch diese meine erfinderische Tätigkeit bin ich ein Gegner des Sozialismus, national oder nicht.“
Noch subtiler ist Nicholas Ofczarek als Oskar. Oft scheint er in sich hineinzuhören, sich in sich selbst zu krümmen, neben sich selbst zu stehen. Seinem Kinn sieht man die Melancholie an, die ihm im Hals steckt. Er denunziert den Fleischer nicht in all seiner Fleischlichkeit, macht ihn nicht zum Schuldigen, zum Täter. Wie man in dieser Inszenierung überhaupt – und das wird wohl Horváths Intentionen gerecht – nicht genötigt wird, zwischen Tätern und Opfern zu entscheiden.
In diesem Sinn gibt Sarah Viktoria Frick die Marianne kaum als Opfer, auch nicht als süßes Mädel (obwohl sie so aussieht), sondern als freches Girlie mit wilder Mimik und Gestik, das überhaupt kein Talent zum Leiden hat, und auch keine Lust dazu. Sie tut niemandem den Gefallen, gern und brav zu zerbrechen. Ist ihre ältere Gegenfigur, die Valerie, eine Zerbrochene? Sylvie Rohrer lässt das offen, bei ihr wirkt sogar schreiende Hysterie geheimnisvoll. Man spürt nur: Der Sex-Appeal dieser Trafikantin kommt aus ihrer Bedürftigkeit, weniger aus ihrer gefüllten Brieftasche.
Ist Alfred ein Ödipus?
Martin Schwab ist ein einwandfrei altösterreichischer Rittmeister, Gertrud Roll eine tadellos böse Großmutter: Ist sie gar die einzige reine Täterin? Oder treibt die Hinfälligkeit sie? Annamá ria Lá ng verleiht der Mutter eigenartige Züge: Was ist das für ein seltsam ödipales Verhältnis zu ihrem Sohn Alfred? Felix Rech spielt diesen mit gewohntem Strizzi-Charme, der nicht einmal auf den armen Oskar seine Wirkung verfehlt. Auf jeden Fall kann er nichts dafür, aber wer kann das schon in diesem Reigen?
Insgesamt: großes Schauspielertheater, das ja nicht im Widerspruch zu einem entschiedenen Regiekonzept stehen muss, wenn dieses nicht zu banal ist. Und das ist das vorliegende eben nicht. Beanstanden könnte man allenfalls, dass die collageartige Verschmelzung der Szenen vor allem am Anfang das Verständnis der Handlung allzu schwer macht. Am Schluss funktioniert das besser, vor allem, weil man spürt, dass passieren muss, was dann wirklich passiert: Alle Personen verstummen und treten allmählich in den Hintergrund, während die Musik übernimmt. Gottes Mühlen haben gemahlen. Am Ende bleibt der Walzer.
Bis nach dem Lockdown dann.