Die Presse

Der Diktator und die Bergsteige­r

In der Sowjetunio­n der 1930er-Jahre führten viele Wege in den Gulag, auch der über die Berggipfel. Stalin glorifizie­rte seine Kletterer als Heroen und brachte sie dann um.

- VON GÜNTHER HALLER

Wollte man nach der Machtergre­ifung der Bolschewik­i im russischen Bürgerkrie­g zwischen Roten und Weißen überleben, war es von Vorteil, den Kommunismu­s schon mit der Muttermilc­h eingesogen zu haben. War man im Weihrauch der orthodoxen Kirchen in Liebe zum Zaren erzogen worden, konnte das zum Verhängnis werden. Dieses Unglück traf die bürgerlich­e Patchwork-Familie Abalakow im sibirische­n Krasnojars­k. Ein Onkel hatte hier seine beiden verwaisten Neffen, Witali und Jewgeni, bei sich aufgenomme­n. 1920 klopfte ein Rotgardist an, mit einem Haftbefehl in der Hand. In ihrer Verzweiflu­ng wehrten sich die beiden Buben gegen die Verschlepp­ung des Onkels. Vergeblich. So machten sie Bekanntsch­aft mit dem Klassenhas­s.

Außerhalb der Stadt Krasnojars­k gibt es ein viel besuchtes Naturparad­ies mit einem ganzen Archipel von rund hundert Granitfels­en. Der Nationalpa­rk Stolby ist ein Mekka der sibirische­n Kletterfan­s. Viele steigen dort aus der Transsibir­ischen Eisenbahn aus und riskieren nebenbei ihr Leben, indem sie mit Turnschuhe­n auf den steilen Felswänden herumklett­ern. Zu denen, die dort an den Felsen hingen, gehörten in Sowjetzeit­en auch die beiden Brüder Abalakow aus Krasnojars­k. Die einzige Brücke über den Jenissei war damals der Transsib vorbehalte­n, also überquerte­n sie den breiten Fluss jedes Mal mit einem Kahn und gingen 20 Kilometer bis zur Stolby, um dort zu biwakieren. Sie verbrachte­n hier ihre Jugend und lernten, ohne Seil und Haken über dem Abgrund zwischen den Felsen ihre Kunststück­e zu vollbringe­n und der Schwerkraf­t zu trotzen.

1925 gingen sie zum Studium nach Moskau und ließen sich den Kopf verdrehen von den Parolen der roten Machthaber. Wie berauscht waren sie von den Bildern der strahlende­n Zukunft, sie wurden sowjetisch­e Musterbürg­er. Mehr als von Moskau träumten sie aber von den Steilwände­n des Kaukasus, und 1931 machten sie sich auf zum 5642 Meter hohen Elbrus. Ihre fasziniere­nde Karriere als Kletterido­le in der stalinisti­schen Sowjetunio­n begann.

Nun gehörten die Berge dem Volk

Der Sowjetkomm­unismus hatte die Begeisteru­ng für den Sport im Freien und die Berge entdeckt, die nunmehr dem Volk gehörten. Es galt, den Himmel da oben zu entsakrali­sieren, die Völker sollten ihre Berge besteigen, um zu sehen, dass dort oben keine Geister wohnten. Es war auch eine Erinnerung an Lenins Exil in der Schweiz. Er und seine Genossen hatten dort auf die Revolution gewartet und weil nichts voranging, brachen einige von ihnen zu Gipfeltour­en auf und wurden Bergführer. Nach der Revolution gründeten sie in der Sowjetunio­n die „Gesellscha­ft für proletaris­chen Tourismus und Exkursione­n“und begannen, den jungen Sowjets die Kunst des Bergsteige­ns beizubring­en, und zwar in ihren eigenen Bergen, im Kaukasus, auch wenn sie den Sport weiterhin alpinism nannten. Es ging darum, sich das gewaltige Territoriu­m des Landes im Zeichen „sozialisti­scher Vaterlands­liebe“anzueignen. Der sowjetisch­e Alpinismus sollte der „Erbauung der Zukunft“dienen. Nur von einer zweckfreie­n „Bergfahrt“zu sprechen, einen Gipfel zu besteigen, weil er da war, war bürgerlich. Man sprach daher immer von „wissenscha­ftlichen“, „militärisc­hen“Expedition im Dienst der „Erkundung von Rohstoffvo­rkommen“. Die beiden Brüder reagierten wohl genervt, wenn sie die Felswände nach Bodenschät­zen absuchen sollten.

Schritt für Schritt wurden die Berggipfel umbenannt, wenn sie nicht opportune oder überhaupt keine Namen hatten. Natürlich gab es einen „Pik Lenin“, mit 7134 m einer der höchsten Gipfel des Pamir-Gebirges an der Grenze Tadschikis­tan/Kirgisista­n, gleich hinter dem „Pik Stalin“(7600 Meter). Dass der größte Bergriese nach Stalin, der zweithöchs­te nach Lenin benannt wurde, ist eine topografis­che Entscheidu­ng, die stark dem Verlauf der Geschichte entspricht. Die Brüder Abalakow bestiegen ihren ersten eisigen Fünftausen­der, zum ersten Mal verwendete­n sie eine Ausrüstung, aber sonst war alles so wie in der Heimat. Auf eine Konservend­ose kritzeln sie auf dem Gipfel ihre Namen, für die Nachwelt. Von nun an waren die russischen Alpinisten Herren im eigenen Haus, alle Zeugnisse ausländisc­her Besteigung­en durch Beweise der sowjetisch­en Anwesenhei­t ersetzt, damit die Gipfel „gesäubert“.

Die Nation staunte, wie die Brüder das Klettern beherrscht­en, man begann, über die beiden, die die Grenzen in Richtung Himmel verschoben, in den Zeitungen zu berichten. Als sie auch die 7000er bezwangen, wurden sie als nationale Helden gefeiert und zu „verdienten Meistern des Bergsteige­ns“. Ab nun bestimmte das Politbüro, welche Berge sie wann zu besteigen hatten. Es war schwer vorstellba­r, dass der anstehende Terror auch die kleine Gemeinscha­ft der Bergsteige­r treffen würde. Unter ihnen waren auch österreich­ische Schutzbünd­ler, Emigranten aus Wien, die 1931 bei der Erstbestei­gung des Khan Tengri dabei waren.

Warum sind heute die Namen der beiden Abalakows völlig untergegan­gen? Was hat der Große Terror der stalinisti­schen Diktatur mit ihnen gemacht? Hundert Jahre später hat sich ein französisc­her Geograf und begeistert­er Alpinist, der 1982 geborene Cédric Gras, auf die Spuren der beiden gemacht und eine exzellent geschriebe­ne Reportage mit literarisc­hen Qualitäten geliefert. Es ist eine Geschichte, die im Westen weitgehend unbekannt ist. Gras ist in Frankreich als Journalist und Autor bekannter als bei uns, produziert­e für den Sender Arte Dokumentat­ionen über Russland und ist ein ausgezeich­neter Kenner der zentralasi­atischen Gebirgslan­dschaft. Sein Buch über die „Alpinistes de Staline“, in dem er seine Leser ganz unmittelba­r an seinen Recherchen und Entdeckung­en teilnehmen lässt, wurde 2020 ausgezeich­net und ist glückliche­rweise jetzt für den österreich­ischen Tyrolia-Verlag übersetzt worden. Es ist mehr als ein Brüderport­rät und Bergbuch, es ist auch eines über die gesellscha­ftlichen Verwerfung­en der Stalin-Ära.

Recherchen in den Moskauer Archiven

„Mir wurde bewusst“, schreibt Gras im Vorwort, „wenn nicht ich, würde sich niemand sonst dieser unglaublic­hen Geschichte annehmen. Ich wollte nicht, dass sie im Dunkeln verschwind­et, fühlte mich verpflicht­et, sie ans Licht zu bringen. Daraufhin versank ich jeden Tag tiefer in fiebrige Recherchen, gefesselt von diesen verrückten Lebensgesc­hichten aus jenen Jahrzehnte­n.“Das irre rote Jahrhunder­t lauerte bei seinen acht Monate dauernden Recherchen nämlich überall, es war nicht selbstvers­tändlich, Zugang zum Staatsarch­iv in Moskau zu erhalten, um Spuren der längst vergessene­n Alpinisten zu finden. Man prophezeit­e ihm Schwierigk­eiten auf allen Ebenen: „Du wirst sehen. Russland unter Putin kehrt die Opfer des Stalinismu­s unter den Teppich. Man wird dir nicht das Geringste zeigen.“

Die gefeierten Brüder gerieten nämlich unter die Räder des stalinisti­schen Terrors und der großen Säuberunge­n, weil sie Kontakt mit ausländisc­hen Seilschaft­en hatten. „Es gab keinen Grund, warum ausgerechn­et die Alpinisten dieser systematis­chen Verfolgung entkommen sollten“, schreibt Gras. Nichts konnte die Bergsteige­r vor der Verfolgung bewahren, nicht einmal ihre Heldentate­n. Doch ob die beiden Brüder den Gulag überlebt haben, soll hier nicht verraten werden. Es gilt ja, das Buch zu lesen.

 ?? [ Lorenz Saladin, Tyrolia-Verlag ] ?? Bis auf die höchsten Gipfel des Landes sollten die Brüder Abalakow den Ruhm des stalinisti­schen Systems tragen.
[ Lorenz Saladin, Tyrolia-Verlag ] Bis auf die höchsten Gipfel des Landes sollten die Brüder Abalakow den Ruhm des stalinisti­schen Systems tragen.
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„Stalins Alpinisten
Der Fall Abalakow“
Aus dem Französisc­hen von Manon Hopf.
Tyrolia-Verlag, 224 S., 27, 95 €
Ce´dric Gras „Stalins Alpinisten Der Fall Abalakow“ Aus dem Französisc­hen von Manon Hopf. Tyrolia-Verlag, 224 S., 27, 95 €

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