Digitale Wege aus der Pflegekrise
Sozialwissenschaften.
Die Pflege als Pflegefall? Politikwissenschaftlerin Stefanie Wöhl hat untersucht, welche digitalen Werkzeuge Pflegekräften den schwierigen Arbeitsalltag erleichtern können. Am Ende braucht es dennoch mehr Geld.
Es sei fünf nach zwölf. Mit diesem Warnruf betitelten am Mittwoch der Vorwoche Beschäftigte aus Gesundheits-, Pflege- und Sozialberufen ihre – um fünf nach zwölf gestartete – Protestaktion. Darin angeprangert wurden die prekären Arbeitsbedingungen und die Untätigkeit der Regierung.
„Die Pandemie hat den Notstand in der Pflege massiv verstärkt. Zu Personalmangel und schlechter Bezahlung kommt die Angst, sich oder andere anzustecken“, erläutert Stefanie Wöhl, Professorin für Politikwissenschaft an der FH des BFI Wien. Sie startete zu Jahresbeginn 2020 das von der Wiener Arbeiterkammer geförderte Projekt „Die Zukunft der Pflege im digitalen Wandel“. Partnerin der Pilotstudie war die mobile Pflege der Caritas Socialis in Wien. Nur wenige Wochen später bekamen die geplanten Forschungsfragen durch den ersten Lockdown eine völlig neue Brisanz.
Der Abschied vom Zettel
„Uns interessierte, welche digitalen Anwendungen – etwa gemeinsame Benutzeroberflächen, Apps oder Tablets – die Pflege erleichtern können“, schildert die Forscherin. Im Fokus stand aber keine technische Assistenz für Patientinnen und Patienten, sondern die Unterstützung der Angestellten. Fragen waren: Mit welchen Werkzeugen lassen sich Dienstpläne besser erstellen und bei krankheitsbedingten Ausfällen umschichten? Wie verwaltet man den Fuhrpark online? Wie kann man Lohnzettel online erstellen?
Prozesse also, die man ohnehin digitalisiert hätte, so Wöhl. Die aber durch die Pandemie sehr rasch funktionieren mussten, ohne die Beteiligten zu verstören. „Die neuen Technologien sind nicht für alle Menschen im Alltag verankert.“Nicht jede oder jeder sei etwa damit vertraut, ein Dokument digital zu signieren: „Die Pflegedokumentation zu unterschreiben, fiel Klientinnen und Klienten auf einem Zettel leichter als auf einem Handy“, sagt Wöhl. Um auf dem Weg in die Digitalisierung etwa auch ältere Pflegekräfte oder solche mit anderer Muttersprache mitzunehmen, erstellte man gemeinsam mit einem Forschungsteam des Austrian Institute of Technology Schulungsvideos.
Die sozialwissenschaftliche Begleitforschung umfasste Interviews mit dem Pflegepersonal und seinen Vorgesetzten, aber auch mit EDV-Fachleuten. Zusätzlich lud man dazu ein, in moderierten Fokusgruppen über aktuelle Herausforderungen in der Pflege und die
Anwendbarkeit digitaler Instrumente zu diskutieren. Dabei zeigten sich auch Wünsche, etwa Online-Bestellvorgänge für den Orthopädiebedarf zu optimieren oder digital Einkaufslisten zu erstellen – Vorschläge, die man aber erst innerhalb der Institution prüfen müsse, so Wöhl.
Technik und Recht bremsen
Beseitigt werden müssen aber auch noch andere Hürden. So erschwere etwa der mangelhafte Breitbandausbau Österreichs auch bei Haushalten in Wien flächendeckende digitale Anwendungen, schildert die Politikwissenschaftlerin. Eine ständige Herausforderung seien datenschutzrechtliche Regelungen. „Gesundheitsdaten genießen einen besonderen Datenschutz.“Diesen gelte es freilich auch zu beachten, wenn Angehörige digital informiert werden sollen. Aber den „sehr wichtigen“persönlichen Kontakt, dessen Bedeutung die Pandemie klar gezeigt habe, wolle man ohnehin keinesfalls abschaffen. „Man muss nicht alles digitalisieren“, sagt Wöhl, die auch den Jean-Monnet-Chair „Diversity and Social Cohesion in the European Union“hält, einen Lehrstuhl, in dessen Fokus Vielfalt und sozialer Zusammenhalt in der EU stehen. Doch wie erklärt sie die thematische Brücke von Gleichstellungspolitik und Arbeitsmarktfragen hin zur Pflege? Das passe, weil es in der mobilen Pflege sehr viele weibliche Beschäftigte gebe, sagt Wöhl.
Als Forscherin um Sachlichkeit bemüht, gingen ihr die Schilderungen im kürzlich beendeten Projekt aber doch immer wieder nahe: „Wenn man merkt, das Personal tut alles Menschenmögliche, um anderen zu helfen und setzt sich dabei auch Gefahren aus, etwa selbst zu erkranken, und es wird gesellschaftlich nicht wahrgenommen, wie schwierig die Arbeitsbedingungen sind“, führt Wöhl aus. „Dabei brauchen wir alle eventuell früher oder später Pflege für uns oder Angehörige.“
Wie sieht nach diesem Succus ihre persönliche Vision für die Zukunft der Pflege aus? „Pflege muss für alle leistbar sein. Aber sie muss auch als Beruf attraktiv bleiben, damit es genügend Personal gibt.“