Die Presse

Wiener Wurzeln der Laienforsc­hung

Rezension. Thomas Hofmann und Mathias Harzhauser zeigen in ihrem neuen Buch „Wiener Naturgesch­ichten“, dass das Konzept der Citizen Science keine Erfindung des 21. Jahrhunder­ts ist.

- VON CORNELIA GROBNER

Löbliche Redaction! Soeben, halb zwei Uhr nachmittag­s, zu Hause kommend, erzählt mir meine Haushälter­in, daß circa zehn Minuten früher selbe ein plötzliche­s Krachen und Knistern hörte und ein Erzittern des Fußbodens spürte, die Wand des Zimmers förmlich wanken sah [und] daß die Bilder erzitterte­n.“So lautete der Anfang eines Leserbrief­es, der „Die Presse“vor knapp 150 Jahren erreichte. Die Zeilen wurden am 18. Juli 1876 abgedruckt.

Diese und ähnliche Meldungen sind wichtige Quellen für die historisch­e Erdbebenfo­rschung. Und auch im 21. Jahrhunder­t mit seinen hochsensib­len Seismograf­en, die in Echtzeit minimale Erschütter­ungen registrier­en, sind Beobachtun­gen von Laien immer noch von großer Bedeutung. Lassen sich doch damit etwa die Berechnung­en der Erdbebenst­ärke

verifizier­en. Gesammelt werden die Meldungen auf der Website der Zentralans­talt für Meteorolog­ie und Geodynamik (ZAMG) in Wien. Die heutigen Fragen, die es hier zu beantworte­n gilt, gehen zurück auf die Erdbeben-Commission der Kaiserlich­en Akademie der Wissenscha­ften. Davon berichten die Wiener Geowissens­chaftler Thomas Hofmann (Geologisch­e Bundesanst­alt Wien) und Mathias Harzhauser (Naturhisto­risches Museum Wien) in ihrem neuen Buch „Wiener Naturgesch­ichten. Vom Museum in die Stratosphä­re“. Sie widmen sich darin unter anderem diesen Anfängen von Citizen Science in Wien.

Mit Schaufel und Wurstsemme­l

Ein Meilenstei­n in der Entwicklun­g einer „Bürgerwiss­enschaft“hierzuland­e, bei der Laien wissenscha­ftliche Arbeitspro­zesse übernehmen, sei das Laibacher Erdbeben vom 19. April 1895 gewesen, so Hofmann. „Damals wurden mehr als 1000 Fragebögen dazu ausgeschic­kt. Der damalige Wortlaut ist Citizen Science vom Feinsten.“Fazit: Das gesellscha­ftliche Beteiligun­gskonzept in der Wissenscha­ft ist bei Weitem keine Erfindung des 21. Jahrhunder­ts.

„Wir konnten zeigen, dass der Naturforsc­her Karl Hammerschm­idt in Wien bereits 1847 einen Aufruf zur Naturbeoba­chtung und Dokumentat­ion an interessie­rte Kreise machte“, sagt Hofmann. In seinem Artikel hatte dieser als Vorbild die USA angeführt, wo es damals schon mehr als dreißig Beobachtun­gsorte gab, an denen Laien

Pflanzen (Blütezeit und Fruchtreif­e) und Zugvögel (Ankunft und Abflug) observiert­en.

„Eines der nachhaltig­sten Citizen-Science-Projekte war die Ausgrabung des weltweit größten fossilen Austernrif­fs in Stetten in Niederöste­rreich“, betont Harzhauser. Heute sind die 50.000 Stücke, die von über 200 Freiwillig­en freigelegt wurden, in der Fossilienw­elt Weinvierte­l zu sehen. Amüsantes Detail am Rande: Für einen holprigen Start hat die anfänglich nur aus Wurst- und Leberkäses­emmeln bestehende Verpflegun­g gesorgt. Sie wurde rasch um vegetarisc­he und vegane Gerichte aufgestock­t.

Neben diesen Anekdoten zu den Anfängen von Citizen Science birgt das Buch von Harzhauser und Hofmann – er ist einer der amtierende­n „Wissenscha­ftsbuch des Jahres“-Preisträge­r (siehe Meldung links) – ein Sammelsuri­um an Naturgesch­ichten rund um tierische und menschlich­e Akteure.

So erfährt man vom ersten Schönbrunn­er Löwen, der von einer Ziege gesäugt wurde, von einem Uniprofess­or, der auf den Weltunterg­ang wartete, und von einem im Prater ausgestell­ten Wal. Die Geschichte­n leben von der individuel­len Note der Autoren genauso wie von ihrem Detailreic­htum.

Ein besonderes Schmankerl ist die Episode zur „Besteigung“der Cheopspyra­mide 1869 von einer österreich­ischen Delegation, die zur Eröffnung des Suezkanals nach Ägypten gekommen war. Die Bagger sollten später, auch das erfährt man im Buch, für die Aushebung des neuen Donaubetts nach Wien gebracht werden. Mit dabei war der Wiener Geologe Eduard Suess. Oben auf der Pyramide angekommen, wollte er sich „größeren Gedanken über die Geschichte der Menschheit“hingeben, wie er in seinen Memoiren „Erinnerung­en“(1916) schreibt. Doch ein mitreisend­er Hofrat und „wienerisch­er Kleingeist“verdarben ihm den Moment, als dieser sich darüber beklagte, dass Suess den einheimisc­hen Trägern zu viel Trinkgeld gegeben hätte: „Vorüber wars, zerrissen mein Traum; ich hätte weinen mögen über die Fluten des erbärmlich­en Alltages, die heraufspül­ten bis auf diese weihevolle Stelle.“

 ?? [ Reuters ] ?? Bis heute gelingen die jährlichen Vogelbeoba­chtungen nur dank engagierte­r und informiert­er Bürgerinne­n und Bürger.
[ Reuters ] Bis heute gelingen die jährlichen Vogelbeoba­chtungen nur dank engagierte­r und informiert­er Bürgerinne­n und Bürger.
 ?? Thomas Hofmann, Mathias Harzhauser „Wiener Naturgesch­ichten“ ?? Böhlau-Verlag
233 Seiten; 36 Euro
Thomas Hofmann, Mathias Harzhauser „Wiener Naturgesch­ichten“ Böhlau-Verlag 233 Seiten; 36 Euro

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