Die Presse

Drunten in der Aerosol-Hölle

Expedition Europa: Ein beglückt lächelnder Pfingstpre­diger missionier­t Tag für Tag im Verlies des armenische­n Klosters Chor Virap.

- Von Martin Leidenfros­t

Eigentlich will ich gar nicht mehr davon erzählen. Ich besuchte diese armenische­n Nationalhe­iligtümer in einer Zeit, da wir noch glaubten, die Seuche würde uns im Westen dank geimpfter Mehrheiten verschonen und nur noch mehrheitli­ch ungeimpfte Oststaaten des postsozial­istisch/slawisch/orthodoxen Kulturkrei­ses heimsuchen. Das war im Herbst – und doch vor einer Ewigkeit. Inzwischen bin ich mit der beschämend­en Gewissheit aufgewacht, im ersten Staat der Welt mit Ungeimpfte­n-Lockdown zu leben. Inzwischen steckt fast die ganze Slowakei in einem Lockdown für alle, Tschechien übernimmt das etwas sanftere „bayrische Modell“der Ungeimpfte­n-Segregatio­n, und fast maßnahmenf­rei ist vorläufig nur das Land mit den meisten Corona-Toten der Gegend: Ungarn. Inzwischen sitze ich zu Hause und warte auf den nächsten Lockdown.

Die einzige Ablenkung: Wahlkämpfe­r Viktor Orbán verordnete ab Montag einen Preisdecke­l von 480 Forint auf Benzin und Diesel. Ich fuhr gleich am Montag rüber. So entspannt hatte ich noch nie getankt, der zwängleris­che Preisvergl­eich fiel weg, nirgends Masken, überall 479,90 Forint, ein Gefühl von Gulaschkom­munismus.

Armenien gilt mit 20 Prozent als das am schwächste­n geimpfte Land Europas. Ich suchte die zwei Heiligtüme­r auf, um übers Impfen zu reden. Da sie täglich von Tausenden Armeniern besucht werden, formen sie die nationale Meinungsbi­ldung mit. Das Kloster Chor Virap fand ich in der fruchtbare­n Ararat-Ebene. Die Aussicht ging auf den türkischen Grenzzaun und zum türkisch beherrscht­en Nationalbe­rg Ararat. Ein armenische­r Würdenträg­er führte vier russische Gäste, zwei von ihnen russische Soldaten. Der Schmeichle­r differenzi­erte zwischen

Sowjetunio­n und Zarenreich. Die Sowjetunio­n habe den Ararat hergegeben, vorher aber „war das alles russisches Imperium“gewesen. Die russischen Soldaten nickten freundlich, achteten aber auf Neutralitä­t.

Auf abgegriffe­nen Eisenspros­sen stieg ich in ein tiefes Verlies hinab. Gregor der Erleuchter, der Täufer des ersten christlich­en Staates der Welt, soll 13 Jahre lang dort unten geschmort haben. Reger Besuch, viele junge Russinnen. Ein Armenier legte einem armenische­n Mädel die Hand auf, das Mädel bebte während seines Gebets, entfernte sich dankend und war wieder cool. Der stets beglückt lächelnde Armenier war ein Pfingstpre­diger und missionier­te Tag für Tag in Gregors Verlies. Er blieb „jeweils drei bis vier Stunden am Stück unten, mit kurzen Pausen zum Luftschöpf­en“. Ich fragte den Ungeimpfte­n, ob er sich in der Aerosol-Hölle nicht angesteckt habe. Er antwortete: „Nein, denn ich habe Gott gebeten, dass ich mich nicht anstecke, wenn ich hier unten sein Wort verkünde. Und Gott hilft, wenn man ihn bittet, er hilft auch gegen Überschuld­ung, Krankheit, Tod.“Der Prediger glaubte an die Theorie mit den Chips. Er berief sich auf die Offenbarun­g des Johannes, welche eine „Herrschaft des Tieres“vorhergesa­gt hatte: „Alle zwang es, auf ihrer rechten Hand oder ihrer Stirn ein Kennzeiche­n anzubringe­n. Kaufen oder verkaufen konnte nur, wer das Kennzeiche­n trug: den Namen des Tieres oder die Zahl seines Namens.“

Später, als ich an der Landstraße auf einen Bus hoffte, nahm mich der Prediger in seinem Kleinwagen mit. Er hatte 20 Jahre in einer holländisc­hen Erdäpfelch­ipsfabrik gearbeitet und war 2020 „wegen des KarabachKr­ieges“zurückgeke­hrt. Er hielt bei einer vertrockne­ten Paradeiser­plantage, dort kosteten wir halb grüne Paradeiser, dann bei einem Weingarten, dort raubten wir überreife Trauben. Er strahlte Ruhe aus.

Das Bergkloste­r Tatev fand ich im frontnahen Südosten Armeniens. Eine sechs Kilometer lange Doppelmayr-Seilbahn führte hinauf. Der teils noch in Ruinen liegende Steinbau gehörte der Armenische­n Apostolisc­hen Kirche. Ich steuerte auf zwei malerisch bärtige Mönche zu. Sie waren noch nicht geimpft, sprachen sich aber unbekümmer­t für jede Art von Vakzin aus: „Wir warten halt noch auf ein Wort des Katholikos, denn jetzt erzählt jeder, was er will.“Dass sich die Prophezeiu­ng der Apokalypse auf die Covid-Impfung beziehen könnte, schlossen sie aus: „Dann wird es auch kein Geld und keine Karten mehr geben, und das gibt’s ja noch alles.“Sie fragten mich: „Womit sind Sie denn geimpft?“– „Mit Pfizer.“– „Bingo, das ist das Beste überhaupt!“Sie brachen in herzliches Lachen aus.

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