Der Dorn der Opuntie
Leichengift war perfekt für Infektionen. Als ich einmal beobachtete, wie eine Krähe an einem toten Maulwurf herumhackte, jagte ich sie weg und schaute den Kadaver lange an. Ein Gartenkrimi.
Einst hatten wir einen Garten, dann nur mehr ein Glashaus und eine Wüste davor. Im Freien speicherten rote Lavasteine die Wärme, dazwischen gab es viel groben und feineren Kies. Seit Ludwig in Frühpension war, war hier ein Stein auf den anderen geworfen worden. Auch im Glashaus war Wüste, trockene Hitze, staubige Luft, hier durfte kein saftiger Humus herein. Die Kakteen mochten das nicht.
Nur meine drei Rhododendren waren mir geblieben, die verwendete Ludwig zum Pinkeln. Damit sie nicht zu stinken anfingen, spritzte ich sie mit dem Schlauch ab. Nicht, dass wir im Haus nicht zwei Toiletten gehabt hätten.
Die Kaktusse draußen waren alle aus Amerika. Winterhart, wer hätte das gedacht. Ohrwaschlkaktusse waren auch dabei, aber das durfte ich nicht sagen. Es heißt „Feigenkakteen“oder „Opuntien“.
Ich schwöre, dass Ludwig normal war, als wir heirateten. Zwei Jahre lang. Wir hatten uns über eine Dating App kennengelernt, beide schon weit über vierzig, was für ein Wunder war das. Er war real, sah aus wie sein Foto, suchte was Festes und hatte einen Job. Eines führte zum anderen und schließlich zur Hochzeit. Ludwig zog bei mir ein. Er arbeitete als Buchhalter bei der Fioreg Transport- und Speditionsges.m.b.H., und ich betrieb meinen Nagelsalon im Erdgeschoß des Hauses, das ich von meinen Eltern geerbt hatte.
„Weißt du was?“, sagte er. „Wir werden nicht gemeinsam alt werden, wir werden gemeinsam jung bleiben!“Es war eine schöne Zeit, die einzig gute.
Zwei Jahre, und dann erfuhr ich, dass er ausgebrannt war – von der Buchhaltung beim Fioreg und den alle vierzehn Tage stattfindenden Besuchen seines erwachsenen Sohnes Jonas, der bereits verdiente und ihm nicht auf der Tasche lag, anlässlich welcher Besuche ich aufkochte, während Ludwig sich mit dem Gast in der Wohnlandschaft unterhielt. Zwei Jahre lang war mir nicht das Geringste aufgefallen, was auf eine Erschöpfungsdepression hindeuten hätte können, oder auch nur Erschöpfung – und doch musste Ludwig irgendwen überzeugt haben, der ihn in Frühpension schickte.
Frankenstein’sche Geschöpfe
Von einer Sekunde auf die andere hatte ich das Gefühl, dass ich diesen Mann gar nicht kannte, dass er nichts als eine Reihe von Fotos in einer App war, vor einem Bergsee, auf dem Fahrrad, mit einem Weinglas in der Hand, 1,78 m groß, Sternzeichen Waage, gerne in der Natur.
Von da an ging es rapide bergab. Ruhelos tigerte Ludwig, der Erschöpfte, in Haus und Garten umher, sah mir beim Kochen und Putzen über die Schulter, schaute sogar ins Nagelstudio hinein, während ich gerade einer Kundin kleine Delfine aufklebte für den Urlaub. Er schaute alles an, vom Dachboden bis zum Gartenschuppen, als würde er es jetzt zum ersten Mal richtig sehen. Erst viel später fiel mir auf, dass er von da an nie wieder zum Arzt ging, egal, ob er fieberte, seine Lunge pfiff, ihm die Zähne ausfielen, er Blut im Urin hatte, sein Knöchel geschwollen war oder er das Knie plötzlich nicht mehr abbiegen konnte – von den Erektionsstörungen reden wir gar nicht. Er mied Ärzte wie die Pest, und ich glaube, es lag daran, dass er fürchtete, sein Schwindel könnte auffliegen.
Nachdem er sich ein paar Wochen lang gründlich umgesehen, Bilder umgehängt und Möbel verschoben hatte, äußerte Ludwig den Wunsch, ich möge meinen Nagelsalon woanders betreiben, im Einkaufszentrum vielleicht. Das ständige Eindringen von Fremden ins Haus störe ihn. Tatsächlich hatte ich denselben Gedanken auch schon gehabt, denn mich wiederum störte es, wenn meine Kundinnen mitbekamen, wie mein vermeintlicher Dating-App-Hauptgewinn rund um die Uhr daheim herumlungerte und dabei zusehends verfiel.
Also mietete ich ein kleines Geschäftslokal im Einkaufszentrum und war eine Weile ganz froh, bis Ludwig mir eines Abends gleich zwei schreckliche Vorschläge unterbreitete. Erstens wollte er meine Finanzen und Buchhaltung übernehmen, und zweitens wollte er sich einer großen Aufgabe widmen, nämlich der Kakteenzucht, und zu diesem Zweck im Garten ein riesiges Gewächshaus errichten. Ich wusste sofort, dass ich ihm eines der beiden Dinge zugestehen musste, und schnell sagte ich ja zur Kakteenzucht, denn meine Finanzen wollte ich ihm auf keinen Fall überlassen.
Und so rodete Ludwig meine Päonien, Glyzinien, Buchsbäume und Oleander, meine Küchenkräuter und Lavendel, Teppichkraut, Schafgarbe und Rittersporn. Das Glashaus wurde errichtet und mit Phallussen bestückt, anders kann man es ja nicht nennen, stachlige Phallusse und borstige Hoden, und die Jahre vergingen und mit dem Schwinden von Ludwigs Geschlechtskräften, dem Ausfallen seiner Zähne und Anschwellen seiner Gelenke wurden die Phallusse länger und die Hoden strotzender und praller. Immer wenn ich jemandem, der sie nicht kannte, von der Kakteenzucht erzählte, hörte ich: „Wie schön!“Aber es war keine schöne Kakteenzucht, sie war ganz und gar scheußlich, und obwohl Ludwig den ganzen Tag daran werkelte und tüftelte, sah sie nie ordentlich und gepflegt aus, sondern immer nur staubig und elend und krank. Die Kakteen waren schief gewachsen, invalide, hatten Narben und abgestorbene Teile. Besonders pervers fand ich die Pfropferei, wenn von einem Kaktus der obere Teil abgeschnitten und ein völlig anderer daraufgesetzt wurde und festwuchs wie ein Geschwür. Monsterkakteen waren das, Frankenstein’sche Geschöpfe.
Jonas kam weiterhin jeden zweiten Sonntag und ich zerspragelte mich weiterhin in der Küche, während die Herren nun Spaziergänge durch die Wüsteneien machten und sich ansahen, wo die Monster kleine Ärmchen oder Warzen ausgetrieben hatten.
Einmal aber hörte ich zufällig ein Gespräch, das mir sehr zu denken gab.
„Und“, fragte Jonas, „hast du jetzt schon herausgekriegt, wie viel sie auf der hohen Kante hat?“
Daraufhin nannte Ludwig exakt die Beträge, die gerade auf meinem Privat- und meinem Geschäftskonto lagen, den aktuellen Wert meines Aktiendepots und die Mieteinnahmen nach Steuern, die ich von der kleinen Eigentumswohnung bekam, die mir die Wurzinger Oma vererbt hatte.
Beerben, aber wie?
Er hatte sich meiner Passwörter bedient, was nicht schwer war, weil ich sie in einer Datei mit dem Titel „Passwörter“abgespeichert hatte, aber so was tut man nicht. Und warum überhaupt wollte er das so genau wissen? War mit meinem baldigen Tode zu rechnen? Warteten sie schon darauf, mein hart Erarbeitetes und Erspartes zu verprassen?
Mein Ableben stand bei Gott nicht in Aussicht, ich war fit und fidel. Ludwig dagegen lebte viel gefährlicher, mit all seinen Krankheiten und Verletzungen, die er nicht behandeln ließ. Nicht einmal Handschuhe verwendete er, wenn er mit seinen Kakteen hantierte. Er hielt sich für unverwundbar, kannte keine Furcht vor diesen geharnischten Rittern von der traurigen Gestalt, und das, obwohl seine Hände permanent zerstochen waren.
Es gibt so viele verschiedene Arten von Dornen – manche sind weich wie Babyhaar oder Löwenzahnsamen und wirklich ganz harmlos. Andere sehen genauso unschuldig aus, sind aber mit Widerhaken bestückt, die sich in die Haut hineinarbeiten und die man nicht herausziehen kann, weil man sie mit bloßem Auge nicht sieht. Manche haken sich an den Kleidern fest wie Kletten. Es gibt lange spitze Stacheln wie Nähnadeln und breite dreieckige wie Haizähne. Besonders heimtückisch sind die brüchigen: Kaum in die Haut eingedrungen, brechen sie ab, und bei dem Versuch, sie unter der Haut noch mit der Pinzette zu fassen, brechen sie in Stücke, wandern und vereitern.
Wie oft hatte ich gesagt: „Du holst dir noch eine Blutvergiftung, Ludwig!“
Und er sagte darauf: „Da müsste schon eine Fliege exakt auf die Spitze des Dornes scheißen, damit das passiert, hahahaha!“
Auf jeden Fall hab ich immer die Pinzetten und Nadeln desinfiziert, mit denen er an seinen Furunkeln herumoperierte, genauso wie ich meine Feilen und Scheren im Nagelstudio desinfizierte. Wenn er schon nicht selbst auf sich aufpasste, so wollte wenigstens ich mein Möglichstes tun.
Jetzt aber wurde ich wütend. Was gingen ihn meine Konten an? Was interessierte ihn mein Aktiendepot? Wollte er mir Geld abschwatzen, um auf dem Schwarzmarkt illegal in Chile geraubte hundertjährige Copiapoas zu kaufen? Oder wollte er mich wirklich beerben? Aber wie?
Ich wurde so wütend, dass ich eines Abends wartete, bis Ludwig beim Kakteenzüchtervereinstreffen war. Dann ging ich hinaus in die Gartenwüste und versuchte zunächst, auf einen der Ohrwaschlkaktusse zu pinkeln. Dies war mir jedoch aus anatomischen Gründen nicht möglich, ohne eine Verletzung meiner Weichteile zu riskieren. Also hockte ich mich hin und pieselte großflächig über die Echinocereuspölster und was sonst noch niedrig herumstand.
Fliegenschiss? Menschenurin! Dünger! Aber wirkte Urin nicht desinfizierend? Gab es nicht Wahnsinnige, die in der Wildnis ihre Wunden bepinkelten? Kacke musste her, Kolibakterien!
Ich hörte auf, Ludwigs Nadeln und Pinzetten zu desinfizieren. Irgendwann fielen sie mir auf den Boden, ich schob sie ein bisschen mit meinen Straßenschuhen herum. Ich fand einen kleinen Taubenschiss, verdünnte ihn mit Wasser und sprühte im Glashaus die Stacheln und Dornen und Widerhaken ein. Ich ging über zu Mäusekot und schließlich zu eigenem Material. Nichts geschah. Ludwig war unverwundbar. Seine Haut war von ledrigen Schwielen gestärkt, sein Körper vom eisernen Glauben an sich selbst.
Ignaz Semmelweis fiel mir ein und die Sache mit dem Leichengift. Semmelweis hatte herausgefunden, dass die Gebärenden deshalb reihenweise starben, weil die geburtshelfenden Medizinstudenten zuvor Leichen seziert hatten und sich die Hände nicht wuschen. Leichengift war perfekt für Infektionen. Als ich einmal beobachtete, wie eine Krähe an einem toten Maulwurf herumhackte, jagte ich sie weg und schaute den Kadaver lange an.
Und dann passierte es plötzlich. Ludwig hatte einen eitrigen Zeigefinger. Ein Ohrwaschlkaktusstachel war der Schuldige, oder wie er es nannte: ein Opuntiendorn. Nicht einer von den langen Stacheln, das wäre kein Problem gewesen, den hätte man einfach herausgezogen, sondern einer aus den borstigen Büscheln dazwischen. Hauchdünne Fasern mit Widerhäkchen, die zu Hunderten abfallen, wenn man den Kaktus nur schief anschaut.
Ein Skalpell aus dem Internet
„Geh zum Arzt, Herrgott!“, sagte ich, als Ludwigs Finger mehr und mehr anschwoll, sich die Eiterbeule ausbreitete.
„Der Dorn eitert heraus!“, sagte Ludwig. „Er eitert hinein!“, sagte ich.
Ludwig bestellte sich im Internet ein Skalpell. Beim Auspacken fiel es mir in den Müll, direkt auf das verdorbene Schweinskotelett, das schon ziemlich stank. Aber schnell holte ich das Skalpell wieder heraus und brachte es Ludwig, der damit an seinem grässlichen Furunkel herummetzelte. Am nächsten Tag hatte er große rote Flecken am Arm, in der Ellenbogenbeuge und unter der Achsel. Ein paar Stunden später lag er glühend heiß auf der Wohnlandschaft und wirkte verwirrt. Als ich nachschauen wollte, ob die roten Flecken weitergewandert waren, weigerte er sich, mir seinen Oberkörper zu zeigen.
„Ludwig“, sagte ich, „nimm Vernunft an. Ich fahr dich ins Krankenhaus.“
„Nur über meine Leiche!“, sagte er und torkelte ins Schlafzimmer. Er knallte die Türe so hinter sich zu, dass man sich gar nicht mehr hineingehen traute. Ich rief Jonas an: „Dein Vater sollte ins Krankenhaus, bitte hilf mir, ihn zu überzeugen!“
„Lass ihn doch in Ruhe“, sagte Jonas, „der Mann ist alt genug!“
Also tat ich, wie mir geheißen, und schlief selbst auf der Wohnlandschaft, um den Kranken nicht zu stören. Die ganze Nacht kam er nicht heraus. Am nächsten Morgen auch nicht. Zu Mittag öffnete ich die Schlafzimmertür einen Spalt breit und lugte hinein. Ludwig lag im Bett und rührte sich nicht. Ich hatte ein ungutes Gefühl.
Als die Notärztin kam, konnte sie nur mehr Ludwigs Tod feststellen. Sepsis.
„Ich fühle mich so schuldig!“, schluchzte ich. „Geh ins Krankenhaus!, hab ich gesagt, aber er wollte nicht. Es ist doch nur ein kleiner Dorn, hat er gesagt, wie ich ihn schon tausend Mal herauseitern hab lassen!“Die Ärztin schüttelte entschieden den Kopf. „Es ist nicht Ihre Schuld. Sie hatten das nicht vorhersehen können. Machen Sie sich nicht verrückt.“
Einer der Sanitäter führte mich am Ellbogen zur Wohnlandschaft und sorgte dafür, dass ich mich bequem niedersetzte. „Wir können für Sie eine psychologische Betreuung organisieren, falls Sie das wünschen“, sagte er.
„Danke“, sagte ich, „ich brauche jetzt als Erstes jemanden, der mir diese ganzen mörderischen Kaktusse entfernt!“