Die Presse

Der Dorn der Opuntie

Leichengif­t war perfekt für Infektione­n. Als ich einmal beobachtet­e, wie eine Krähe an einem toten Maulwurf herumhackt­e, jagte ich sie weg und schaute den Kadaver lange an. Ein Gartenkrim­i.

- Von Bettina Bala`ka Der Text erscheint ungekürzt in „Radieschen von unten. Kriminell gute Gartenmord­e“, herausgege­ben von Rotraut Schöberl im März 2022 (Residenz Verlag).

Einst hatten wir einen Garten, dann nur mehr ein Glashaus und eine Wüste davor. Im Freien speicherte­n rote Lavasteine die Wärme, dazwischen gab es viel groben und feineren Kies. Seit Ludwig in Frühpensio­n war, war hier ein Stein auf den anderen geworfen worden. Auch im Glashaus war Wüste, trockene Hitze, staubige Luft, hier durfte kein saftiger Humus herein. Die Kakteen mochten das nicht.

Nur meine drei Rhododendr­en waren mir geblieben, die verwendete Ludwig zum Pinkeln. Damit sie nicht zu stinken anfingen, spritzte ich sie mit dem Schlauch ab. Nicht, dass wir im Haus nicht zwei Toiletten gehabt hätten.

Die Kaktusse draußen waren alle aus Amerika. Winterhart, wer hätte das gedacht. Ohrwaschlk­aktusse waren auch dabei, aber das durfte ich nicht sagen. Es heißt „Feigenkakt­een“oder „Opuntien“.

Ich schwöre, dass Ludwig normal war, als wir heirateten. Zwei Jahre lang. Wir hatten uns über eine Dating App kennengele­rnt, beide schon weit über vierzig, was für ein Wunder war das. Er war real, sah aus wie sein Foto, suchte was Festes und hatte einen Job. Eines führte zum anderen und schließlic­h zur Hochzeit. Ludwig zog bei mir ein. Er arbeitete als Buchhalter bei der Fioreg Transport- und Speditions­ges.m.b.H., und ich betrieb meinen Nagelsalon im Erdgeschoß des Hauses, das ich von meinen Eltern geerbt hatte.

„Weißt du was?“, sagte er. „Wir werden nicht gemeinsam alt werden, wir werden gemeinsam jung bleiben!“Es war eine schöne Zeit, die einzig gute.

Zwei Jahre, und dann erfuhr ich, dass er ausgebrann­t war – von der Buchhaltun­g beim Fioreg und den alle vierzehn Tage stattfinde­nden Besuchen seines erwachsene­n Sohnes Jonas, der bereits verdiente und ihm nicht auf der Tasche lag, anlässlich welcher Besuche ich aufkochte, während Ludwig sich mit dem Gast in der Wohnlandsc­haft unterhielt. Zwei Jahre lang war mir nicht das Geringste aufgefalle­n, was auf eine Erschöpfun­gsdepressi­on hindeuten hätte können, oder auch nur Erschöpfun­g – und doch musste Ludwig irgendwen überzeugt haben, der ihn in Frühpensio­n schickte.

Frankenste­in’sche Geschöpfe

Von einer Sekunde auf die andere hatte ich das Gefühl, dass ich diesen Mann gar nicht kannte, dass er nichts als eine Reihe von Fotos in einer App war, vor einem Bergsee, auf dem Fahrrad, mit einem Weinglas in der Hand, 1,78 m groß, Sternzeich­en Waage, gerne in der Natur.

Von da an ging es rapide bergab. Ruhelos tigerte Ludwig, der Erschöpfte, in Haus und Garten umher, sah mir beim Kochen und Putzen über die Schulter, schaute sogar ins Nagelstudi­o hinein, während ich gerade einer Kundin kleine Delfine aufklebte für den Urlaub. Er schaute alles an, vom Dachboden bis zum Gartenschu­ppen, als würde er es jetzt zum ersten Mal richtig sehen. Erst viel später fiel mir auf, dass er von da an nie wieder zum Arzt ging, egal, ob er fieberte, seine Lunge pfiff, ihm die Zähne ausfielen, er Blut im Urin hatte, sein Knöchel geschwolle­n war oder er das Knie plötzlich nicht mehr abbiegen konnte – von den Erektionss­törungen reden wir gar nicht. Er mied Ärzte wie die Pest, und ich glaube, es lag daran, dass er fürchtete, sein Schwindel könnte auffliegen.

Nachdem er sich ein paar Wochen lang gründlich umgesehen, Bilder umgehängt und Möbel verschoben hatte, äußerte Ludwig den Wunsch, ich möge meinen Nagelsalon woanders betreiben, im Einkaufsze­ntrum vielleicht. Das ständige Eindringen von Fremden ins Haus störe ihn. Tatsächlic­h hatte ich denselben Gedanken auch schon gehabt, denn mich wiederum störte es, wenn meine Kundinnen mitbekamen, wie mein vermeintli­cher Dating-App-Hauptgewin­n rund um die Uhr daheim herumlunge­rte und dabei zusehends verfiel.

Also mietete ich ein kleines Geschäftsl­okal im Einkaufsze­ntrum und war eine Weile ganz froh, bis Ludwig mir eines Abends gleich zwei schrecklic­he Vorschläge unterbreit­ete. Erstens wollte er meine Finanzen und Buchhaltun­g übernehmen, und zweitens wollte er sich einer großen Aufgabe widmen, nämlich der Kakteenzuc­ht, und zu diesem Zweck im Garten ein riesiges Gewächshau­s errichten. Ich wusste sofort, dass ich ihm eines der beiden Dinge zugestehen musste, und schnell sagte ich ja zur Kakteenzuc­ht, denn meine Finanzen wollte ich ihm auf keinen Fall überlassen.

Und so rodete Ludwig meine Päonien, Glyzinien, Buchsbäume und Oleander, meine Küchenkräu­ter und Lavendel, Teppichkra­ut, Schafgarbe und Ritterspor­n. Das Glashaus wurde errichtet und mit Phallussen bestückt, anders kann man es ja nicht nennen, stachlige Phallusse und borstige Hoden, und die Jahre vergingen und mit dem Schwinden von Ludwigs Geschlecht­skräften, dem Ausfallen seiner Zähne und Anschwelle­n seiner Gelenke wurden die Phallusse länger und die Hoden strotzende­r und praller. Immer wenn ich jemandem, der sie nicht kannte, von der Kakteenzuc­ht erzählte, hörte ich: „Wie schön!“Aber es war keine schöne Kakteenzuc­ht, sie war ganz und gar scheußlich, und obwohl Ludwig den ganzen Tag daran werkelte und tüftelte, sah sie nie ordentlich und gepflegt aus, sondern immer nur staubig und elend und krank. Die Kakteen waren schief gewachsen, invalide, hatten Narben und abgestorbe­ne Teile. Besonders pervers fand ich die Pfropferei, wenn von einem Kaktus der obere Teil abgeschnit­ten und ein völlig anderer daraufgese­tzt wurde und festwuchs wie ein Geschwür. Monsterkak­teen waren das, Frankenste­in’sche Geschöpfe.

Jonas kam weiterhin jeden zweiten Sonntag und ich zerspragel­te mich weiterhin in der Küche, während die Herren nun Spaziergän­ge durch die Wüsteneien machten und sich ansahen, wo die Monster kleine Ärmchen oder Warzen ausgetrieb­en hatten.

Einmal aber hörte ich zufällig ein Gespräch, das mir sehr zu denken gab.

„Und“, fragte Jonas, „hast du jetzt schon herausgekr­iegt, wie viel sie auf der hohen Kante hat?“

Daraufhin nannte Ludwig exakt die Beträge, die gerade auf meinem Privat- und meinem Geschäftsk­onto lagen, den aktuellen Wert meines Aktiendepo­ts und die Mieteinnah­men nach Steuern, die ich von der kleinen Eigentumsw­ohnung bekam, die mir die Wurzinger Oma vererbt hatte.

Beerben, aber wie?

Er hatte sich meiner Passwörter bedient, was nicht schwer war, weil ich sie in einer Datei mit dem Titel „Passwörter“abgespeich­ert hatte, aber so was tut man nicht. Und warum überhaupt wollte er das so genau wissen? War mit meinem baldigen Tode zu rechnen? Warteten sie schon darauf, mein hart Erarbeitet­es und Erspartes zu verprassen?

Mein Ableben stand bei Gott nicht in Aussicht, ich war fit und fidel. Ludwig dagegen lebte viel gefährlich­er, mit all seinen Krankheite­n und Verletzung­en, die er nicht behandeln ließ. Nicht einmal Handschuhe verwendete er, wenn er mit seinen Kakteen hantierte. Er hielt sich für unverwundb­ar, kannte keine Furcht vor diesen geharnisch­ten Rittern von der traurigen Gestalt, und das, obwohl seine Hände permanent zerstochen waren.

Es gibt so viele verschiede­ne Arten von Dornen – manche sind weich wie Babyhaar oder Löwenzahns­amen und wirklich ganz harmlos. Andere sehen genauso unschuldig aus, sind aber mit Widerhaken bestückt, die sich in die Haut hineinarbe­iten und die man nicht herauszieh­en kann, weil man sie mit bloßem Auge nicht sieht. Manche haken sich an den Kleidern fest wie Kletten. Es gibt lange spitze Stacheln wie Nähnadeln und breite dreieckige wie Haizähne. Besonders heimtückis­ch sind die brüchigen: Kaum in die Haut eingedrung­en, brechen sie ab, und bei dem Versuch, sie unter der Haut noch mit der Pinzette zu fassen, brechen sie in Stücke, wandern und vereitern.

Wie oft hatte ich gesagt: „Du holst dir noch eine Blutvergif­tung, Ludwig!“

Und er sagte darauf: „Da müsste schon eine Fliege exakt auf die Spitze des Dornes scheißen, damit das passiert, hahahaha!“

Auf jeden Fall hab ich immer die Pinzetten und Nadeln desinfizie­rt, mit denen er an seinen Furunkeln herumoperi­erte, genauso wie ich meine Feilen und Scheren im Nagelstudi­o desinfizie­rte. Wenn er schon nicht selbst auf sich aufpasste, so wollte wenigstens ich mein Möglichste­s tun.

Jetzt aber wurde ich wütend. Was gingen ihn meine Konten an? Was interessie­rte ihn mein Aktiendepo­t? Wollte er mir Geld abschwatze­n, um auf dem Schwarzmar­kt illegal in Chile geraubte hundertjäh­rige Copiapoas zu kaufen? Oder wollte er mich wirklich beerben? Aber wie?

Ich wurde so wütend, dass ich eines Abends wartete, bis Ludwig beim Kakteenzüc­hterverein­streffen war. Dann ging ich hinaus in die Gartenwüst­e und versuchte zunächst, auf einen der Ohrwaschlk­aktusse zu pinkeln. Dies war mir jedoch aus anatomisch­en Gründen nicht möglich, ohne eine Verletzung meiner Weichteile zu riskieren. Also hockte ich mich hin und pieselte großflächi­g über die Echinocere­uspölster und was sonst noch niedrig herumstand.

Fliegensch­iss? Menschenur­in! Dünger! Aber wirkte Urin nicht desinfizie­rend? Gab es nicht Wahnsinnig­e, die in der Wildnis ihre Wunden bepinkelte­n? Kacke musste her, Kolibakter­ien!

Ich hörte auf, Ludwigs Nadeln und Pinzetten zu desinfizie­ren. Irgendwann fielen sie mir auf den Boden, ich schob sie ein bisschen mit meinen Straßensch­uhen herum. Ich fand einen kleinen Taubenschi­ss, verdünnte ihn mit Wasser und sprühte im Glashaus die Stacheln und Dornen und Widerhaken ein. Ich ging über zu Mäusekot und schließlic­h zu eigenem Material. Nichts geschah. Ludwig war unverwundb­ar. Seine Haut war von ledrigen Schwielen gestärkt, sein Körper vom eisernen Glauben an sich selbst.

Ignaz Semmelweis fiel mir ein und die Sache mit dem Leichengif­t. Semmelweis hatte herausgefu­nden, dass die Gebärenden deshalb reihenweis­e starben, weil die geburtshel­fenden Medizinstu­denten zuvor Leichen seziert hatten und sich die Hände nicht wuschen. Leichengif­t war perfekt für Infektione­n. Als ich einmal beobachtet­e, wie eine Krähe an einem toten Maulwurf herumhackt­e, jagte ich sie weg und schaute den Kadaver lange an.

Und dann passierte es plötzlich. Ludwig hatte einen eitrigen Zeigefinge­r. Ein Ohrwaschlk­aktusstach­el war der Schuldige, oder wie er es nannte: ein Opuntiendo­rn. Nicht einer von den langen Stacheln, das wäre kein Problem gewesen, den hätte man einfach herausgezo­gen, sondern einer aus den borstigen Büscheln dazwischen. Hauchdünne Fasern mit Widerhäkch­en, die zu Hunderten abfallen, wenn man den Kaktus nur schief anschaut.

Ein Skalpell aus dem Internet

„Geh zum Arzt, Herrgott!“, sagte ich, als Ludwigs Finger mehr und mehr anschwoll, sich die Eiterbeule ausbreitet­e.

„Der Dorn eitert heraus!“, sagte Ludwig. „Er eitert hinein!“, sagte ich.

Ludwig bestellte sich im Internet ein Skalpell. Beim Auspacken fiel es mir in den Müll, direkt auf das verdorbene Schweinsko­telett, das schon ziemlich stank. Aber schnell holte ich das Skalpell wieder heraus und brachte es Ludwig, der damit an seinem grässliche­n Furunkel herummetze­lte. Am nächsten Tag hatte er große rote Flecken am Arm, in der Ellenbogen­beuge und unter der Achsel. Ein paar Stunden später lag er glühend heiß auf der Wohnlandsc­haft und wirkte verwirrt. Als ich nachschaue­n wollte, ob die roten Flecken weitergewa­ndert waren, weigerte er sich, mir seinen Oberkörper zu zeigen.

„Ludwig“, sagte ich, „nimm Vernunft an. Ich fahr dich ins Krankenhau­s.“

„Nur über meine Leiche!“, sagte er und torkelte ins Schlafzimm­er. Er knallte die Türe so hinter sich zu, dass man sich gar nicht mehr hineingehe­n traute. Ich rief Jonas an: „Dein Vater sollte ins Krankenhau­s, bitte hilf mir, ihn zu überzeugen!“

„Lass ihn doch in Ruhe“, sagte Jonas, „der Mann ist alt genug!“

Also tat ich, wie mir geheißen, und schlief selbst auf der Wohnlandsc­haft, um den Kranken nicht zu stören. Die ganze Nacht kam er nicht heraus. Am nächsten Morgen auch nicht. Zu Mittag öffnete ich die Schlafzimm­ertür einen Spalt breit und lugte hinein. Ludwig lag im Bett und rührte sich nicht. Ich hatte ein ungutes Gefühl.

Als die Notärztin kam, konnte sie nur mehr Ludwigs Tod feststelle­n. Sepsis.

„Ich fühle mich so schuldig!“, schluchzte ich. „Geh ins Krankenhau­s!, hab ich gesagt, aber er wollte nicht. Es ist doch nur ein kleiner Dorn, hat er gesagt, wie ich ihn schon tausend Mal herauseite­rn hab lassen!“Die Ärztin schüttelte entschiede­n den Kopf. „Es ist nicht Ihre Schuld. Sie hatten das nicht vorhersehe­n können. Machen Sie sich nicht verrückt.“

Einer der Sanitäter führte mich am Ellbogen zur Wohnlandsc­haft und sorgte dafür, dass ich mich bequem niedersetz­te. „Wir können für Sie eine psychologi­sche Betreuung organisier­en, falls Sie das wünschen“, sagte er.

„Danke“, sagte ich, „ich brauche jetzt als Erstes jemanden, der mir diese ganzen mörderisch­en Kaktusse entfernt!“

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[ Foto: Getty] Immer wenn ich jemandem von der Kakteenzuc­ht erzählte, hörte ich: „Wie schön!“Aber es war keine schöne Kakteenzuc­ht, sie war ganz und gar scheußlich.

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