Mars oder Minerva?
Harmlose Unterhaltung, aber handwerklich gut gemacht: Irene Disches Roman „Die militante Madonna“.
Man fühlt sich ein wenig an die Lügengeschichten des Baron Münchhausen erinnert, beginnt man dem Ich-Erzähler in Irene Disches Roman zu folgen. Es ist aber auch ein äußerst ungewöhnliches, ja unglaubliches Leben, das der Chevalier d’Éon (1728–1810) geführt hat. Als französischer Diplomat bzw. englischer Geheimagent, Soldat, Freimaurer, Mitglied der feudalen High Society zwischen Versailles und London wurde er vor allem populär, weil er – lange bevor Transgender, genderfluid oder nichtbinäre Geschlechtsidentität als Begriffe erfunden waren – viele Jahre als Frau lebte und sein wahres Geschlecht für Spekulationen sowie hohe Einsätze an den Wettbörsen sorgte und erst posthum endgültig geklärt wurde. Mit dem Begriff des Eonismus, der als Vorläufer von Transgender gilt, hat ihm die Sexualforschung ein bleibendes Denkmal gesetzt.
Irene Dische lässt diese schillernde Figur des 18. Jahrhunderts in ihrem Roman „Die militante Madonna“gleichsam als Geist aus dem Jenseits 250 Jahre später ihr Erwachsenenleben in Episoden erzählen: vom Leben als französischer Botschafter Ludwig des XV. in London, von den intriganten Geschäften mit Freund Morande, einem skrupellosen Vorläufer des Boulevardjournalisten, der die royalen Hoheiten mittels Fake News, die er zu veröffentlichen droht, erpresst und so viel Geld verdient, von der Bekanntschaft und später: der großen Verliebtheit in Pierre Caron de Beaumarchais (der u. a. die Vorlage für Mozarts „Figaro“lieferte), vom kurzzeitigen Leben im Nonnenkloster, dem stundenlangen weiblichen Ankleidezeremoniell, vom Versuch, ein Amazonenheer auszubilden, das im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg kämpfen soll, und von den letzten ruhigen Jahren im Kostüm einer ärmlichen Witwe in England . . .
Scheinmoralisches System
Die Wendungen, die Eons ´ Leben nimmt, haben mit einer erstaunlichen Cleverness als Businessman zu tun, die auf eine wilde Entschlossenheit trifft, einem System, das sich als höchst scheinmoralisch offenbart, genau so zu begegnen. Oft spielt sein Geschlecht, oder eher: die Uneindeutigkeit seines Geschlechts, die entscheidende Rolle. Man(n) stößt sich an diesem Wesen, das sich als Mars und Minerva porträtieren lässt, glänzend mit dem Degen ficht und im Damensattel reitet, weil es so gesellschaftliche Konventionen durch das eigene Auftreten infrage stellt. Ein überzeugter Weltveränderer ist É on aber nicht, jedenfalls nicht in Disches Roman.
Die ganze Erzählung hindurch liegt ihm als Ich-Erzähler vor allem daran zu verführen – mit einer kurzweiligen, glatten Erzählung, die an keiner Stelle in die Tiefe geht. É on hat mehr Sinn für elegante Garderoben, noble Einrichtung und vor allem: für die kleinen und großen physiognomischen und charakterlichen Schwächen seiner Mitmenschen als für eine kritische Investigation jenes korrupten feudalen Klatsch-und-Tratsch-Systems, zu dem er letztlich gehört. Großen Eindruck hinterlässt der Roman daher keinen. Sprachlich bleibt er zwischen zwei Zeiten, gedanklich zwischen Fakten und Fiktion, sodass es ihm an Präzision und Gehalt fehlt. „Die militante Madonna“bietet harmlose Unterhaltung, ist aber handwerklich sehr gut gemacht.
Irene Dische
Die militante Madonna Roman. Aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach. 219 Seiten, geb., € 22,70 (Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg)