Roadmovie mit der Mama
Situationskomik, Missverständnisse und übergriffige Autorität dem längst erwachsenen Kind gegenüber: Matthias Nawrats Roman „Reise nach Maine“.
Ist es manchmal vielleicht klüger, seinen Sehnsuchtsorten fernzubleiben? Diesen Schluss könnte der Trip des Ich-Erzählers in die USA in Matthias Nawrats Roman „Reise nach Maine“nahelegen, denn er läuft völlig anders ab als geplant. Der Mann ist von Beruf Schriftsteller und wollte seiner Mutter zunächst einige Lieblingsorte in New York zeigen, danach hätten sie sich getrennt, und er wäre weiter in den Norden gefahren, während sie noch eine Woche bei einem ehemaligen Studienfreund in Texas verbracht hätte. Er, das wird gleich zu Beginn deutlich, hätte die zweite Woche allein quasi als Belohnung für die erste Woche mit der Mutter empfunden.
Stattdessen „trickst“diese ihren Sohn aus und eröffnet ihm vor dem Abflug, dass sie ihrem Freund so einen langen Besuch nicht zumuten könne, womöglich gäbe es Missverständnisse mit dessen Frau; deswegen wolle sie ihren Sohn lieber auch nach Maine begleiten und die ganzen zwei Wochen mit ihm verbringen. Außerdem: „Wo wir zwei schon endlich eine Reise machen, dann sollten wir sie auch wirklich zusammen machen und nicht schon nach einer Woche wieder getrennte Wege gehen.“War das der Plan? Die Vorfreude des Autors auf „die geisterhaften Ortschaften an der Küste von Maine“ist nun deutlich getrübt. Auch die Vorfreude darauf, der Mutter „sein New York“zu zeigen, „ist nur noch ein theoretisches Konstrukt“: „Ich hatte ihr etwas Gutes tun wollen. Aber sie hatte es geschafft, es in eine Pflicht umzuwandeln, ganz wie immer, wenn sie zu ihren Vorträgen anhob darüber, was Familie bedeute, dass damit Verpflichtungen verbunden seien.“
Das Reisen mit Eltern oder Elternteilen ist natürlich ein dankbares Thema, auch Christian Kracht schickte in seinem letzten Roman, „Eurotrash“, den Protagonisten mit seiner kranken 80-jährigen Mutter los. Groteske Situationskomik, dauernde Missverständnisse und übergriffige Autorität den längst erwachsenen Söhnen gegenüber garantieren eine stetige Spannung und ein
Mitgefühl mit den „Kindern“, die einen atemlos weiterblättern lassen: Welchem Wahnsinn werden die Armen als Nächstes ausgesetzt?
Nawrat ist nicht zimperlich und mutet seinen Figuren einiges zu. Die Mutter des Protagonisten stürzt gleich am ersten Tag in der gemieteten Wohnung in Brooklyn, das sie an das „Rumänien von früher“erinnert, über einen Hocker und erleidet einen Nasenbeinbruch. Die folgenden Stunden im Krankenhaus sind mit Warten und europäisch anmutender Bürokratie ausgefüllt, am Ende verlässt die Mutter das Spital mit verbundener Nase und zwei blutunterlaufenen Augen. In den Tagen darauf wird sie ständig mit der amerikanisch-höflichen Freundlichkeit angesprochen und bemitleidet, und ihr Englisch, das gar nicht so schlecht ist, wie ihr Sohn verwundert konstatiert, wird immer flüssiger. Sie unterhält sich gern mit den Menschen und macht dabei ziemlich gute Figur, wieder zur Verblüffung des Sohnes. Überhaupt herrscht zwischen der Außenwahrnehmung und der Wahrnehmung des Sohnes ein eklatanter Unterschied, aber das kennt man ja von den eigenen familiären Beziehungen, egal, ob als Elternteil oder Kind. Sobald der erzieherische Faden gerissen oder durchgeschnitten ist, liegen die Peinlichkeiten, die einem der jeweils andere zumutet, nackt auf dem Tisch.
Im Verlauf der Reise muss der Erzähler einiges revidieren, was er bisher über seine Mutter gedacht und gewusst hat, die beiden lernen sich neu kennen. In diesem Sinne: Verreisen Sie doch wieder einmal mit Ihrer Mutter! Aber vielleicht nicht gerade an den Sehnsuchtsort (weder Ihren noch ihren).