Wie einst Soldat Schwejk
Es ist gut, gemäßigten Fortschritt anzustreben. Minouch Shafiks Gesellschaftsvertrag „Was wir einander schulden“zeigt, dass wissenschaftlich gestützte Reformen viel bewirken können – mehr davon sind nötig.
Hinter uns die Finanzkrise, derzeit die Pandemie – und vor uns der Klimawandel. Die Wirtschaft der Welt muss verändert werden. Wie soll sie ausschauen? Viel wurde dazu geschrieben. Meist werden Entwürfe einer Wirtschaft mit geringer Ungleichheit, ökologischer Produktion und ökologischem Konsum angeboten. Oft liest man, dass der Kapitalismus am Ende sei oder beendet werden soll. Als Utopie hat diese Literatur eine Funktion in den politischen Auseinandersetzungen.
Sie gibt aber keine Anleitungen für konkrete Politik. Was sollte eine Regierung tun, die etwa von Kate Raeworths Ideen der Donut-Ökonomie überzeugt ist, nämlich dass nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel produziert werden soll? Im ersten Fall gibt es zu viel Armut, im anderen zu viele Umweltschäden. Das Buch bot bei seinem Erscheinen nichts Neues, war aber erfolgreich. Die Autorin wurde damit zu einer führenden Publizistin für radikale Reformen des Wirtschaftssystems.
Das Buch von Minouch Shafik hat ein anderes Ziel. Shafik will niemand davon überzeugen, dass es große Probleme bei wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fragen gibt und daher die Politik viel zu ändern hat. Sie schrieb das Buch für diejenigen, die diese Einsicht ohnehin teilen. Sie spricht auch nicht vom Ende des Kapitalismus. Das stünde ihr wohl schlecht an. Die aus Ägypten stammende Autorin hat führende Positionen in der Weltbank, beim IWF und der Bank of England innegehabt. Seit 2017 ist sie Präsidentin der London School of Economics, einer der weltweit führenden Universitäten für Volkswirtschaft und Politik.
Shafik schreibt über konkrete Reformen in zentralen Bereichen der Wohlfahrt jeder Gesellschaft – Kinder, Bildung, Gesundheit Arbeit, Alter, Generationen. Die Vorschläge weisen in die gleiche politische Richtung wie die der kapitalismuskritischen Literatur. In Europa würde man sie als sozialdemokratisch-liberal bezeichnen, in den USA als progressiv. Sie sucht aber zum Unterschied von den radikaleren Vorstellungen nach konkreten Veränderungen. Sie können jetzt von Staaten in Angriff genommen werden, ohne das Wirtschaftssystem als Ganzes infrage zu stellen. Schließlich sind auch die Übel der heutigen Gesellschaften konkret: ungleiche Lastenverteilung bei Betreuungsarbeit, ungleicher Zugang zu Einrichtungen des Bildungssystems, Prekarisierung vor allem in einigen Dienstleistungstätigkeiten, das große Umweltproblem des Klimawandels und so weiter.
Die meisten von Shafiks Vorschlägen sind in den existierenden politischen Rahmen diskutierbar. Es werden dabei wirtschaftsund sozialpolitische Analysen angeführt, in denen die Wirksamkeit solcher Maßnahmen untersucht wurde. Was sind die Wirkungen von Mindestlöhnen? Wie verändert die Möglichkeit, ohne Gebühren studieren zu können, einerseits die Einkommensverteilung, andererseits die Möglichkeit für Personen aus bildungsfernen Familien, ein Studium zu absolvieren? Leser des Buches jedweden Geschlechts erfahren, dass Ökonomie als Wissenschaft durchaus für Reformen wichtige Resultate liefert. Viele der anderen Schriften lehnen Ökonomie als Wissenschaft ab.
Keine der vorgeschlagenen Reformen stellt das wirtschaftliche System infrage – Marktwirtschaft, Privateigentum an Produktionsmitteln, staatliche Regulieren. Das versteht man unter Kapitalismus. Österreich, die USA und China haben ein kapitalistisches Wirtschaftssystem. Es gibt aber große Unterschiede zwischen diesen drei Staaten. In kapitalistischen Wirtschaften sind Veränderungen möglich.
Wirtschaftswachstum wird von der Autorin nicht missbilligt. Sie kommt aus einem armen Land mit starkem Bevölkerungswachstum, und sie hat lange Zeit in der Weltbank gearbeitet. Eine Reduzierung der Armut gehört zu ihren Aufgaben. Vom Nicht-Wachstum werden die Hungrigen nicht satt, und die für den Klimaschutz notwendigen Investitionen könnten nicht getätigt werden.
Der theoretische Rahmen für dieses Buch ist, den Staat als Vertrag seiner Bürger und Bürgerinnen zu sehen. Nicht der Fürst eines Landes konstituiert den Staat, sondern ein Vertrag der in einem Land lebenden Personen. Er legt Rechte und Pflichten für alle fest. Jede Person schuldet der Gesellschaft, nämlich den anderen Mitgliedern, und kann erwarten, von ihr etwas zu erhalten. Diese Konstruktion betont die Rolle jedes Menschen unabhängig von allen anderen, und sie erklärt den Titel des Buches. Erstmals wurde sie von Thomas Hobbes 1652 in seinem „Leviathan“‘ verwendet, um die Möglichkeit eines Friedensschlusses nach dem Bürgerkrieg in England zu begründen. Im angloamerikanischen Staatsverständnis ist diese Vorstellung jedenfalls bis heute stark vertreten.
Diese Idee sieht von möglicherweise fundamentalen Unterschieden zwischen Gruppen von Personen ab – Proletarier und Eigentümer von Kapital, Männer und Frauen, ethnische Unterschiede, insbesondere im Zusammenhang mit sozialen Differenzen; jetzt lebende Menschen und die in der Zukunft lebenden. Das berührt zahlreiche die Politik dominierenden Konflikte. Die Autorin will einen neuen Gesellschaftsvertrag, in dem diese Probleme geringer sind. Es geht darum, dass die trotz formeller Gleichheit real vorhandene Ungleichheit reduziert wird; etwa dass die in der Zukunft lebenden Menschen nicht über die heutige Klimapolitik mitreden können.
Man kann das Herangehen der Autorin angesichts der realen Probleme als ungenügend qualifizieren, gewissermaßen als eine Neuauflage der Karikatur politischer Parteien von Jaroslav Hasˇek, des Autors des „braven Soldaten Schwejk“. Hasˇek hatte 1911 eine Partei mit dem Namen „Partei des gemäßigten Fortschritts“gegründet. Mit den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts hinsichtlich der Folgen radikaler Umbrüche kann man sagen: Es ist gut, wenn gemäßigter Fortschritt angestrebt wird. Minouch Shafiks Buch zeigt, dass wissenschaftlich gestützte Reformen einiges bewirken können – mehr davon ist notwendig.