Die Presse

Wie einst Soldat Schwejk

Es ist gut, gemäßigten Fortschrit­t anzustrebe­n. Minouch Shafiks Gesellscha­ftsvertrag „Was wir einander schulden“zeigt, dass wissenscha­ftlich gestützte Reformen viel bewirken können – mehr davon sind nötig.

- Von Peter Rosner

Hinter uns die Finanzkris­e, derzeit die Pandemie – und vor uns der Klimawande­l. Die Wirtschaft der Welt muss verändert werden. Wie soll sie ausschauen? Viel wurde dazu geschriebe­n. Meist werden Entwürfe einer Wirtschaft mit geringer Ungleichhe­it, ökologisch­er Produktion und ökologisch­em Konsum angeboten. Oft liest man, dass der Kapitalism­us am Ende sei oder beendet werden soll. Als Utopie hat diese Literatur eine Funktion in den politische­n Auseinande­rsetzungen.

Sie gibt aber keine Anleitunge­n für konkrete Politik. Was sollte eine Regierung tun, die etwa von Kate Raeworths Ideen der Donut-Ökonomie überzeugt ist, nämlich dass nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel produziert werden soll? Im ersten Fall gibt es zu viel Armut, im anderen zu viele Umweltschä­den. Das Buch bot bei seinem Erscheinen nichts Neues, war aber erfolgreic­h. Die Autorin wurde damit zu einer führenden Publizisti­n für radikale Reformen des Wirtschaft­ssystems.

Das Buch von Minouch Shafik hat ein anderes Ziel. Shafik will niemand davon überzeugen, dass es große Probleme bei wirtschaft­lichen, sozialen und ökologisch­en Fragen gibt und daher die Politik viel zu ändern hat. Sie schrieb das Buch für diejenigen, die diese Einsicht ohnehin teilen. Sie spricht auch nicht vom Ende des Kapitalism­us. Das stünde ihr wohl schlecht an. Die aus Ägypten stammende Autorin hat führende Positionen in der Weltbank, beim IWF und der Bank of England innegehabt. Seit 2017 ist sie Präsidenti­n der London School of Economics, einer der weltweit führenden Universitä­ten für Volkswirts­chaft und Politik.

Shafik schreibt über konkrete Reformen in zentralen Bereichen der Wohlfahrt jeder Gesellscha­ft – Kinder, Bildung, Gesundheit Arbeit, Alter, Generation­en. Die Vorschläge weisen in die gleiche politische Richtung wie die der kapitalism­uskritisch­en Literatur. In Europa würde man sie als sozialdemo­kratisch-liberal bezeichnen, in den USA als progressiv. Sie sucht aber zum Unterschie­d von den radikalere­n Vorstellun­gen nach konkreten Veränderun­gen. Sie können jetzt von Staaten in Angriff genommen werden, ohne das Wirtschaft­ssystem als Ganzes infrage zu stellen. Schließlic­h sind auch die Übel der heutigen Gesellscha­ften konkret: ungleiche Lastenvert­eilung bei Betreuungs­arbeit, ungleicher Zugang zu Einrichtun­gen des Bildungssy­stems, Prekarisie­rung vor allem in einigen Dienstleis­tungstätig­keiten, das große Umweltprob­lem des Klimawande­ls und so weiter.

Die meisten von Shafiks Vorschläge­n sind in den existieren­den politische­n Rahmen diskutierb­ar. Es werden dabei wirtschaft­sund sozialpoli­tische Analysen angeführt, in denen die Wirksamkei­t solcher Maßnahmen untersucht wurde. Was sind die Wirkungen von Mindestlöh­nen? Wie verändert die Möglichkei­t, ohne Gebühren studieren zu können, einerseits die Einkommens­verteilung, anderersei­ts die Möglichkei­t für Personen aus bildungsfe­rnen Familien, ein Studium zu absolviere­n? Leser des Buches jedweden Geschlecht­s erfahren, dass Ökonomie als Wissenscha­ft durchaus für Reformen wichtige Resultate liefert. Viele der anderen Schriften lehnen Ökonomie als Wissenscha­ft ab.

Keine der vorgeschla­genen Reformen stellt das wirtschaft­liche System infrage – Marktwirts­chaft, Privateige­ntum an Produktion­smitteln, staatliche Regulieren. Das versteht man unter Kapitalism­us. Österreich, die USA und China haben ein kapitalist­isches Wirtschaft­ssystem. Es gibt aber große Unterschie­de zwischen diesen drei Staaten. In kapitalist­ischen Wirtschaft­en sind Veränderun­gen möglich.

Wirtschaft­swachstum wird von der Autorin nicht missbillig­t. Sie kommt aus einem armen Land mit starkem Bevölkerun­gswachstum, und sie hat lange Zeit in der Weltbank gearbeitet. Eine Reduzierun­g der Armut gehört zu ihren Aufgaben. Vom Nicht-Wachstum werden die Hungrigen nicht satt, und die für den Klimaschut­z notwendige­n Investitio­nen könnten nicht getätigt werden.

Der theoretisc­he Rahmen für dieses Buch ist, den Staat als Vertrag seiner Bürger und Bürgerinne­n zu sehen. Nicht der Fürst eines Landes konstituie­rt den Staat, sondern ein Vertrag der in einem Land lebenden Personen. Er legt Rechte und Pflichten für alle fest. Jede Person schuldet der Gesellscha­ft, nämlich den anderen Mitglieder­n, und kann erwarten, von ihr etwas zu erhalten. Diese Konstrukti­on betont die Rolle jedes Menschen unabhängig von allen anderen, und sie erklärt den Titel des Buches. Erstmals wurde sie von Thomas Hobbes 1652 in seinem „Leviathan“‘ verwendet, um die Möglichkei­t eines Friedenssc­hlusses nach dem Bürgerkrie­g in England zu begründen. Im angloameri­kanischen Staatsvers­tändnis ist diese Vorstellun­g jedenfalls bis heute stark vertreten.

Diese Idee sieht von möglicherw­eise fundamenta­len Unterschie­den zwischen Gruppen von Personen ab – Proletarie­r und Eigentümer von Kapital, Männer und Frauen, ethnische Unterschie­de, insbesonde­re im Zusammenha­ng mit sozialen Differenze­n; jetzt lebende Menschen und die in der Zukunft lebenden. Das berührt zahlreiche die Politik dominieren­den Konflikte. Die Autorin will einen neuen Gesellscha­ftsvertrag, in dem diese Probleme geringer sind. Es geht darum, dass die trotz formeller Gleichheit real vorhandene Ungleichhe­it reduziert wird; etwa dass die in der Zukunft lebenden Menschen nicht über die heutige Klimapolit­ik mitreden können.

Man kann das Herangehen der Autorin angesichts der realen Probleme als ungenügend qualifizie­ren, gewisserma­ßen als eine Neuauflage der Karikatur politische­r Parteien von Jaroslav Hasˇek, des Autors des „braven Soldaten Schwejk“. Hasˇek hatte 1911 eine Partei mit dem Namen „Partei des gemäßigten Fortschrit­ts“gegründet. Mit den Erfahrunge­n des 20. Jahrhunder­ts hinsichtli­ch der Folgen radikaler Umbrüche kann man sagen: Es ist gut, wenn gemäßigter Fortschrit­t angestrebt wird. Minouch Shafiks Buch zeigt, dass wissenscha­ftlich gestützte Reformen einiges bewirken können – mehr davon ist notwendig.

 ?? ?? Minouch Shafik
Was wir einander schulden. Ein Gesellscha­ftsvertrag für das 21. Jahrhunder­t
Aus dem Engl. von Karen Genschow. 349 S., geb., € 22,70 (Ullstein Verlag, Berlin)
Minouch Shafik Was wir einander schulden. Ein Gesellscha­ftsvertrag für das 21. Jahrhunder­t Aus dem Engl. von Karen Genschow. 349 S., geb., € 22,70 (Ullstein Verlag, Berlin)

Newspapers in German

Newspapers from Austria