In der Oper wird der Blick nach vorn oft zur Retrospektive
Wieder heißt es „geschlossen“. Wieder wird hinter den Kulissen weitergearbeitet, und der Kulturbetrieb übersiedelt eine Zeit lang ins Internet.
Was zum „klassischen“Kanon gehört und was nicht . . .
Und wieder hebt eine Zeit an, in der Livekultur nicht stattfinden kann. Spannende Entdeckungen gilt es nun erneut im Internet zu machen. Das fällt oft leichter als bei Livekonzerten. Sage keiner, es fänden ja ohnehin so viele Mahler- und Schostakowitsch-Aufführungen statt. Die Mär, dass es sich bei solchen Meistern um selten gespielte Komponisten handelt, stammt aus den frühen Siebzigerjahren.
Heute spielt man ihre Symphonien öfter als solche von Mozart oder Beethoven; von Haydn ganz zu schweigen. Der viel zitierte Kanon hat sich sukzessive verändert. Und er hat sich in Wahrheit auch verkleinert. Es sind immer dieselben „großen Brocken“, die sich im Gepäck der reisenden Dirigenten und Orchester finden. Man vergleiche die Spielpläne der großen Veranstalter: Die Programme ähneln einander verdächtig.
Immerhin gibt es Festivals, die Schwerpunkte setzen. Wien modern, gerade zum zweiten Mal von der Pandemie ausgebootet, will einige Projekte via Streaming retten. Das ist schon viel. Und die Staatsoper arbeitet bei geschlossenen Türen weiter an ihrer „Don Giovanni“-Neuproduktion, deren Premiere Anfang Dezember in ORF III stattfinden wird.
Das hat bereits Tradition. Schon in den Zeiten des ersten Lockdowns hat gerade die Staatsoper bewiesen, dass man die Kulturfahne im Lande hochhalten kann, auch wenn live wirklich gar nichts mehr geht.
Dass auch im Haus am Ring längst das immer schmaler werdende, international standardisierte RepertoireSegment gepflegt wird, lässt sich indes nicht leugnen. Den mittlerweile in Mailand tätigen Direktor Dominique Meyer haben Avantgarde-Aktivisten ob dieser Tendenz oft gerügt. Angesichts des derzeit viel rückwärtsgewandteren Spielplans sind sie erstaunlicherweise stumm geblieben.
„Neu“sind mittlerweile nur noch die regietheatralischen Umsetzungen der Klassiker. Zum Vergleich: Vor genau 100 Jahren – der Direktor der Staatsoper hieß Richard Strauss – gab man innerhalb einer Woche nebst Wagners „Lohengrin“und Massenets „Manon“ausschließlich Werke lebender Komponisten, den „Evangelimann“und den „Kuhreigen“von Wilhelm Kienzl, Strauss’ eigene „Elektra“, „Violanta“von Erich W. Korngold und Pfitzners „Palestrina“.
In den Zeitungen las man begleitend Anekdoten wie die folgende, die aufschlussreich ist in Sachen der Wertschätzung älterer und jüngerer Musik: Korngold zu einem Mitglied der Philharmoniker beim Spaziergang auf der Ringstraße: „Spielen Sie heut’ Abend meine ,Violanta‘?“– „Nein, wir machen Kammermusik im Musikverein und widmen uns Franz Schubert!“– „Aber der ist doch schon tot.“– „Sein S’ froh!“. . .