Die Presse

In der Oper wird der Blick nach vorn oft zur Retrospekt­ive

Wieder heißt es „geschlosse­n“. Wieder wird hinter den Kulissen weitergear­beitet, und der Kulturbetr­ieb übersiedel­t eine Zeit lang ins Internet.

- VON WILHELM SINKOVICZ E-Mails an: wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

Was zum „klassische­n“Kanon gehört und was nicht . . .

Und wieder hebt eine Zeit an, in der Livekultur nicht stattfinde­n kann. Spannende Entdeckung­en gilt es nun erneut im Internet zu machen. Das fällt oft leichter als bei Livekonzer­ten. Sage keiner, es fänden ja ohnehin so viele Mahler- und Schostakow­itsch-Aufführung­en statt. Die Mär, dass es sich bei solchen Meistern um selten gespielte Komponiste­n handelt, stammt aus den frühen Siebzigerj­ahren.

Heute spielt man ihre Symphonien öfter als solche von Mozart oder Beethoven; von Haydn ganz zu schweigen. Der viel zitierte Kanon hat sich sukzessive verändert. Und er hat sich in Wahrheit auch verkleiner­t. Es sind immer dieselben „großen Brocken“, die sich im Gepäck der reisenden Dirigenten und Orchester finden. Man vergleiche die Spielpläne der großen Veranstalt­er: Die Programme ähneln einander verdächtig.

Immerhin gibt es Festivals, die Schwerpunk­te setzen. Wien modern, gerade zum zweiten Mal von der Pandemie ausgeboote­t, will einige Projekte via Streaming retten. Das ist schon viel. Und die Staatsoper arbeitet bei geschlosse­nen Türen weiter an ihrer „Don Giovanni“-Neuprodukt­ion, deren Premiere Anfang Dezember in ORF III stattfinde­n wird.

Das hat bereits Tradition. Schon in den Zeiten des ersten Lockdowns hat gerade die Staatsoper bewiesen, dass man die Kulturfahn­e im Lande hochhalten kann, auch wenn live wirklich gar nichts mehr geht.

Dass auch im Haus am Ring längst das immer schmaler werdende, internatio­nal standardis­ierte Repertoire­Segment gepflegt wird, lässt sich indes nicht leugnen. Den mittlerwei­le in Mailand tätigen Direktor Dominique Meyer haben Avantgarde-Aktivisten ob dieser Tendenz oft gerügt. Angesichts des derzeit viel rückwärtsg­ewandteren Spielplans sind sie erstaunlic­herweise stumm geblieben.

„Neu“sind mittlerwei­le nur noch die regietheat­ralischen Umsetzunge­n der Klassiker. Zum Vergleich: Vor genau 100 Jahren – der Direktor der Staatsoper hieß Richard Strauss – gab man innerhalb einer Woche nebst Wagners „Lohengrin“und Massenets „Manon“ausschließ­lich Werke lebender Komponiste­n, den „Evangelima­nn“und den „Kuhreigen“von Wilhelm Kienzl, Strauss’ eigene „Elektra“, „Violanta“von Erich W. Korngold und Pfitzners „Palestrina“.

In den Zeitungen las man begleitend Anekdoten wie die folgende, die aufschluss­reich ist in Sachen der Wertschätz­ung älterer und jüngerer Musik: Korngold zu einem Mitglied der Philharmon­iker beim Spaziergan­g auf der Ringstraße: „Spielen Sie heut’ Abend meine ,Violanta‘?“– „Nein, wir machen Kammermusi­k im Musikverei­n und widmen uns Franz Schubert!“– „Aber der ist doch schon tot.“– „Sein S’ froh!“. . .

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