Wie die Missachtung der Verfassung in die Katastrophe führte
Ein Versagen des Rechtsstaates, der Opposition und des Bundespräsidenten ebnete im Jahr 1933 den Weg in die Diktatur.
Österreich befindet sich derzeit in einer kritischen Lage. Als „Staatsversagen“bezeichnete der Politikwissenschaftler Thomas Hofer kürzlich die aktuelle Situation. Bundeskanzler Alexander Schallenberg wiederum betont die Notlage, in der die „Zügel gestrafft“werden müssten. FPÖ-Chef Herbert Kickl spricht im Hinblick auf die Vorgehensweise der Regierung von einer „Diktatur“. Auch wenn jeweils etwas anderes gemeint ist, so ist doch klar, dass seit Bestehen der Zweiten Republik noch nie in dieser Weise in Grund- und Freiheitsrechte eingegriffen wurde.
In der Ersten Republik gab es hingegen mehrere schwere innenpolitische Krisen. Die folgenreichste war wohl jene des Jahres 1933. Den Boden dafür bereitete die schwere Wirtschaftsund Finanzkrise, in der sich Österreich damals befand. Die Arbeitslosigkeit war hoch, die Löhne gering, das Elend groß. Dennoch setzte man auf Sparen statt auf Investitionen. Im März 1933 streikten die Eisenbahner, weil ihre Löhne nur teilweise ausbezahlt wurden. Die von den Christlichsozialen unter Bundeskanzler Engelbert Dollfuß angeführte Regierung griff hart durch, alle Streikenden wurden entlassen. In der Parlamentssitzung kurz danach ging es hoch her, alle Parlamentspräsidenten legten ihr Amt nieder. Dies wurde von Dollfuß zum Anlass genommen, eine „Revolution von oben“vorzunehmen: Der Ministerrat beschloss, ohne Parlament weiterzuregieren. Dollfuß ging zu Bundespräsident Wilhelm Miklas, um ihm davon zu berichten und ihm gleichzeitig, der Form halber, den Rücktritt anzubieten. Dabei beging Miklas den verhängnisvollen Fehler, diesen nicht anzunehmen, sondern der Regierung das vollste Vertrauen auszusprechen. Somit hatte sich nicht das Parlament „selbst ausgeschaltet“, wie es danach in der Propaganda hieß, sondern der Bundespräsident als Hüter der Verfassung. Der Weg zum autoritären Kurs war frei.
Dollfuß regierte fortan mit Notverordnungen. Er begründete dies damit, dass rasche Entscheidungen nötig seien und das Parlament dem Wohl des Staates entgegenstehen würde. Zudem gelang es ihm mit einem Trick, den Verfassungsgerichtshof auszuhebeln, damit dieser die Verordnungen nicht aufheben konnte. Der Sozialdemokrat Wilhelm Ellenbogen warnte Genossen, dass die Regierung beabsichtige, die Arbeiterschaft ihrer letzten Rechte zu berauben und eine faschistische Gewaltherrschaft zu errichten, daher brauche es einen Generalstreik. Dies wurde von der Parteiführung abgelehnt.
Protest gegen den autoritären Kurs kam vereinzelt auch aus den Reihen der Christlichsozialen. Leopold Kunschak schied aus der Parteileitung aus. Und Dollfuß’ langjähriger Freund Ernst Karl Winter kritisierte scharf die Verfassungsbrüche in den Verordnungen der Bundesregierung, für die nicht nur der Kanzler, sondern auch der Bundespräsident verantwortlich sei. „Bundespräsident und Bundeskanzler sind keine bewussten Revolutionäre, sie handeln trotzdem so.“
In der Folge wurden die oppositionellen Parteien verboten, zuerst die Nationalsozialisten, die Österreich damals mit einem beispiellosen Terror überzogen. Doch auch für die Sozialdemokraten wurde es eng. Der Ton wurde rauer, die Hetze in den christlichsozialen und sozialdemokratischen Zeitungen unerträglich. Schließlich entlud sich der Hass im verhängnisvollen Bürgerkrieg des Jahres 1934.
Die Kanzlerdiktatur des Engelbert Dollfuß wird von den Sozialdemokraten bis heute in einem Zusammenhang mit dem Nazi-Faschismus angesehen, obwohl Dollfuß 1934 von Nationalsozialisten ermordet wurde. Der innenpolitische Graben, die Hetze und die Unterdrückung und Hinrichtung Andersdenkender schwächte Österreich jedenfalls in seinem Abwehrkampf gegen die Nationalsozialisten und in der Bewältigung der Wirtschaftskrise. Und die etablierten autoritären Strukturen erleichterten es den Okkupanten, 1938 in Österreich rasch die Macht zu übernehmen.
Es ist klar, dass seit Bestehen der Zweiten Republik noch nie in dieser Weise in Grundund Freiheitsrechte eingegriffen wurde.
Morgen in „Quergeschrieben“: