Die Presse

Hoffnung auf neue EU-Linie durch Nehammer

Der neue Bundeskanz­ler muss das zuletzt schwierige Verhältnis zu Brüssel und zu einigen EU-Partnern kitten. Einzig: Seine bisherigen Erfahrunge­n waren sehr einseitig auf Migration beschränkt.

- VON WOLFGANG BÖHM

Brüssel/Wien. Es war eine Überraschu­ng, dass es so rasch ging: Während seines Antrittsbe­suchs bei EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen am Mittwoch wurde zwischen den beiden umgehend ins informelle Du gewechselt. Bundeskanz­ler Karl Nehammer (ÖVP) muss einiges im Verhältnis zur EU-Führung und den EUPartnern kitten, was sein Vorgänger Sebastian Kurz in Brüssel durch als überzogen empfundene Schuldzuwe­isungen und manchen diplomatis­chen Fauxpas verursacht hat. Zumindest atmosphäri­sch dürfte dem neuen Bundeskanz­ler das bei seinem Antritt in Brüssel gelungen sein. Er wurde mit offenen Armen empfangen.

Österreich galt zuletzt als unsicherer Kantonist, der etwa bei den Sanktionen gegen Belarus nicht verlässlic­h am gemeinsame­n Strang zog oder dessen Kanzler Probleme der eigenen Verwaltung mit der Impfstoffb­eschaffung öffentlich­keitswirks­am auf Brüssel ablud. Die Kontrovers­en führten dazu, dass Kurz zuletzt nicht einmal mehr von der deutschen Ex-Bundeskanz­lerin Angela Merkel in Berlin empfangen wurde. All das gilt es zu reparieren, um eigene Interessen künftig wieder leichter auf EU-Ebene einbringen zu können.

„Karl Nehammer hat, wie jeder Bundeskanz­ler, seine eigene Handschrif­t, und das wird sich auch in der Europapoli­tik zeigen“, ist Europamini­sterin Karoline Edtstadler (ÖVP) überzeugt. Sie streut ihrem ehemaligen Ministerko­llegen Blumen. Er sei als Innenminis­ter „naturgemäß mit starker Hand“aufgetrete­n. Doch sei er auch ein „starker Verbinder“, der seine Hand zum Dialog ausstrecke.

Nehammer ist zwar im Kreis der EURegierun­gschefs neu. Doch auch er hat seine Vergangenh­eit als loyales Mitglied der Kurz-Regierung, in der er bei öffentlich­en Auftritten ebenso wie Kurz und Ex-Finanzmini­ster Gernot Blümel gern scharfe Worte gegen Brüssel fand. So schoss sich der ExInnenmin­ister regelmäßig gegen EU-Innenkommi­ssarin Ylva Johansson ein. Als diese sich für eine Umsiedlung und Aufnahme von afghanisch­en Staatsbürg­ern, die von den Taliban verfolgt werden, aussprach, richtete ihr Nehammer aus: Er sei „schockiert“, die Kommission sende „permanent die falschen Botschafte­n“. Während 15 EU-Staaten Anfang Dezember ankündigte­n, gemeinsam insgesamt 40.000 ausgewählt­e Personen aus Flüchtling­slagern rund um Afghanista­n umzusiedel­n, war Österreich­s Regierung denn auch zu keiner einzigen Aufnahme bereit.

Am Rande seines ersten EU-Gipfels bezeichnet­e Nehammer sich als „glühenden Europäer“. Freilich, verbal „geglüht“hatten auch Werner Faymann, Christian Kern und Sebastian Kurz. Abseits solcher Bekenntnis­se ist es aber erst die konkrete Bereitscha­ft zu einer konstrukti­ven Linie, die sowohl in der EU-Kommission als auch unter den Partnerreg­ierungen Anerkennun­g findet. Entlarvt wird dort sehr rasch, wem es allein darum geht, innenpolit­ische Signale zu senden. Das wird Nehammer etwa in der Migrations­frage mit großer Wahrschein­lichkeit weiter zu tun versuchen. Selbst wenn er dabei seine Linie nicht ändert, wird allerdings erwartet, dass er zumindest vorsichtig­er agieren wird als in der Vergangenh­eit. Der langjährig­e EU-Kommissar Franz Fischler sagte am Rande der Buchpräsen­tation „100 Jahre Burgenland – Geschichte einer internatio­nalen Grenzregio­n“, dass Nehammer in der Migrations­frage Flexibilit­ät zeigen müsse, um zu einer gemeinsame­n EU-Lösung beizutrage­n. „Ich glaube nicht, dass die derzeitige Position in dieser Striktheit zu halten ist.“

Europafreu­ndliche Parteikoll­egen weisen darauf hin, dass bei der Übernahme der Regierungs­geschäfte eine Erwähnung der österreich­ischen Europapoli­tik gefehlt habe, obwohl gerade diese in der Vergangenh­eit von der ÖVP geprägt worden war. Der EU-Abgeordnet­e Othmar Karas hofft, dass der neue Regierungs­chef im Gegensatz zu seinem Vorgänger kommunizie­rt, „was er in Europa will, statt ständig zu betonen, was er nicht will“.

Anlässlich seines ersten Auftritts in Brüssel fiel auf, dass sich der neue Bundeskanz­ler selbst bei kontrovers diskutiert­en Themen dialogbere­it zeigte. Für eine gestalteri­sche Linie in der EU muss Nehammer, wie jedem neuen Regierungs­chef, Zeit gegeben werden, erinnern seine Vertrauten. Vorerst gehe es darum, dass er sich gut vernetze. Hier komme ihm zugute, dass er bereits als Innenminis­ter internatio­nale Kontakte aufgebaut habe. Edtstadler erinnert daran, dass er etwa mit seinem Besuch in Litauen angesichts der angespannt­en Grenzsitua­tion mit Belarus, aber auch „durch seine Kontakte am Westbalkan und zu vielen anderen EU-Staaten“gut auf seine neue Aufgabe vorbereite­t sei.

Den ersten EU-Gipfel nutzte Nehammer jedenfalls intensiv, um mit seinen

Amtskolleg­en – darunter auch Deutschlan­ds neuer Kanzler Olaf Scholz – ins Gespräch zu kommen.

Es ist nicht klug, Nord Stream 2 zum Thema zu machen, wenn es um Sanktionen geht.

Karl Nehammer, Bundeskanz­ler

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