Hoffnung auf neue EU-Linie durch Nehammer
Der neue Bundeskanzler muss das zuletzt schwierige Verhältnis zu Brüssel und zu einigen EU-Partnern kitten. Einzig: Seine bisherigen Erfahrungen waren sehr einseitig auf Migration beschränkt.
Brüssel/Wien. Es war eine Überraschung, dass es so rasch ging: Während seines Antrittsbesuchs bei EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch wurde zwischen den beiden umgehend ins informelle Du gewechselt. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) muss einiges im Verhältnis zur EU-Führung und den EUPartnern kitten, was sein Vorgänger Sebastian Kurz in Brüssel durch als überzogen empfundene Schuldzuweisungen und manchen diplomatischen Fauxpas verursacht hat. Zumindest atmosphärisch dürfte dem neuen Bundeskanzler das bei seinem Antritt in Brüssel gelungen sein. Er wurde mit offenen Armen empfangen.
Österreich galt zuletzt als unsicherer Kantonist, der etwa bei den Sanktionen gegen Belarus nicht verlässlich am gemeinsamen Strang zog oder dessen Kanzler Probleme der eigenen Verwaltung mit der Impfstoffbeschaffung öffentlichkeitswirksam auf Brüssel ablud. Die Kontroversen führten dazu, dass Kurz zuletzt nicht einmal mehr von der deutschen Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin empfangen wurde. All das gilt es zu reparieren, um eigene Interessen künftig wieder leichter auf EU-Ebene einbringen zu können.
„Karl Nehammer hat, wie jeder Bundeskanzler, seine eigene Handschrift, und das wird sich auch in der Europapolitik zeigen“, ist Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) überzeugt. Sie streut ihrem ehemaligen Ministerkollegen Blumen. Er sei als Innenminister „naturgemäß mit starker Hand“aufgetreten. Doch sei er auch ein „starker Verbinder“, der seine Hand zum Dialog ausstrecke.
Nehammer ist zwar im Kreis der EURegierungschefs neu. Doch auch er hat seine Vergangenheit als loyales Mitglied der Kurz-Regierung, in der er bei öffentlichen Auftritten ebenso wie Kurz und Ex-Finanzminister Gernot Blümel gern scharfe Worte gegen Brüssel fand. So schoss sich der ExInnenminister regelmäßig gegen EU-Innenkommissarin Ylva Johansson ein. Als diese sich für eine Umsiedlung und Aufnahme von afghanischen Staatsbürgern, die von den Taliban verfolgt werden, aussprach, richtete ihr Nehammer aus: Er sei „schockiert“, die Kommission sende „permanent die falschen Botschaften“. Während 15 EU-Staaten Anfang Dezember ankündigten, gemeinsam insgesamt 40.000 ausgewählte Personen aus Flüchtlingslagern rund um Afghanistan umzusiedeln, war Österreichs Regierung denn auch zu keiner einzigen Aufnahme bereit.
Am Rande seines ersten EU-Gipfels bezeichnete Nehammer sich als „glühenden Europäer“. Freilich, verbal „geglüht“hatten auch Werner Faymann, Christian Kern und Sebastian Kurz. Abseits solcher Bekenntnisse ist es aber erst die konkrete Bereitschaft zu einer konstruktiven Linie, die sowohl in der EU-Kommission als auch unter den Partnerregierungen Anerkennung findet. Entlarvt wird dort sehr rasch, wem es allein darum geht, innenpolitische Signale zu senden. Das wird Nehammer etwa in der Migrationsfrage mit großer Wahrscheinlichkeit weiter zu tun versuchen. Selbst wenn er dabei seine Linie nicht ändert, wird allerdings erwartet, dass er zumindest vorsichtiger agieren wird als in der Vergangenheit. Der langjährige EU-Kommissar Franz Fischler sagte am Rande der Buchpräsentation „100 Jahre Burgenland – Geschichte einer internationalen Grenzregion“, dass Nehammer in der Migrationsfrage Flexibilität zeigen müsse, um zu einer gemeinsamen EU-Lösung beizutragen. „Ich glaube nicht, dass die derzeitige Position in dieser Striktheit zu halten ist.“
Europafreundliche Parteikollegen weisen darauf hin, dass bei der Übernahme der Regierungsgeschäfte eine Erwähnung der österreichischen Europapolitik gefehlt habe, obwohl gerade diese in der Vergangenheit von der ÖVP geprägt worden war. Der EU-Abgeordnete Othmar Karas hofft, dass der neue Regierungschef im Gegensatz zu seinem Vorgänger kommuniziert, „was er in Europa will, statt ständig zu betonen, was er nicht will“.
Anlässlich seines ersten Auftritts in Brüssel fiel auf, dass sich der neue Bundeskanzler selbst bei kontrovers diskutierten Themen dialogbereit zeigte. Für eine gestalterische Linie in der EU muss Nehammer, wie jedem neuen Regierungschef, Zeit gegeben werden, erinnern seine Vertrauten. Vorerst gehe es darum, dass er sich gut vernetze. Hier komme ihm zugute, dass er bereits als Innenminister internationale Kontakte aufgebaut habe. Edtstadler erinnert daran, dass er etwa mit seinem Besuch in Litauen angesichts der angespannten Grenzsituation mit Belarus, aber auch „durch seine Kontakte am Westbalkan und zu vielen anderen EU-Staaten“gut auf seine neue Aufgabe vorbereitet sei.
Den ersten EU-Gipfel nutzte Nehammer jedenfalls intensiv, um mit seinen
Amtskollegen – darunter auch Deutschlands neuer Kanzler Olaf Scholz – ins Gespräch zu kommen.
Es ist nicht klug, Nord Stream 2 zum Thema zu machen, wenn es um Sanktionen geht.
Karl Nehammer, Bundeskanzler