Durch den Lobau-Tunnel in die Ökostromlücke
Wenn die Klimawende funktionieren soll, muss Vernunft die Ideologie ablösen und ganzheitliches Denken den Polit-Aktivismus.
Die für Klimaschutz und Infrastruktur zuständige Ministerin, Leonore Gewessler, hat als einen der vielen Gründe für den abgesagten Bau des Wiener Lobau-Tunnels angeführt, dass Tunnelbau zu den klimaschädlichsten Aktivitäten gehört. Da hat die Ministerin zweifellos recht: Für die Tunnels werden ungeheure Mengen an Stahlbeton benötigt.
Sowohl Zement als auch Stahl werden unter sehr hohem Energieeinsatz erzeugt. Mit entsprechendem CO2-Abdruck. Die Zementindustrie allein ist für acht Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich, belastet das Klima also fast dreimal so stark wie der globale Flugverkehr.
Wie sich das auswirkt, hat eine ziemlich genau vor einem Jahr veröffentlichte Berliner Studie gezeigt, die die Klimabelastung durch den Bau geplanter U-Bahn-Strecken der Klimaentlastung durch den prognostizierten Fahrgäste-Umstieg in die Metro gegenübergestellt hat. Ergebnis: Um den durch den Bau verursachten CO2-Ausstoß zu kompensieren, wird es in Berlin – je nach Neubaustrecke – 109 bis 230 Jahre dauern. Im Schnitt werden es 139 Jahre sein. Erst danach wird die Klimabilanz positiv.
Die Studie ist übrigens, bevor der Vorwurf kommt, nicht von Benzinbrüdern oder Betonköpfen erstellt worden. Mitautor ist unter anderem der Sprecher der Berliner grünen Arbeitsgemeinschaft Mobilität. Die darin getroffene Aussage, dass U-Bahnen in Tunnellage das Klimaproblem nicht lösen, sondern verschärfen, ist also ideologisch unverdächtig.
Wenn es stimmt, dass wir zur Klimastabilisierung nicht mehr Jahrhunderte, sondern höchstens ein, zwei Jahrzehnte zur Verfügung haben, dann ist U-Bahn-Bau also das genaue Gegenteil von Klimaschutz. Weil er kurzfristig den CO2Eintrag in die Atmosphäre sehr stark erhöht. Viel stärker jedenfalls, als sich durch den zweifellos klimafreundlichen Betrieb von elektrifizierten Bahnen auf Sicht kompensieren ließe.
Dasselbe gilt natürlich auch für Bahntunnel. Die Milliarden, die in den kommenden Jahren in große Bahntunnel verbaut werden, hat Gewessler neulich im Parlament aber als Beitrag zum Klimaschutz gewürdigt.
Also: Straßentunnel ist gleich Umweltverbrechen, ein im selben Verfahren vorangetriebener Bahntunnel ist hingegen Klimaschutz. Wer Umweltdiskussion so betreibt, hat eigentlich jeden Anspruch auf Seriosität verloren. Leider ist dieser ideologiegetriebene Ansatz aber zunehmend Mainstream in der teils mit religiösem Eifer geführten Diskussion.
Nur zur Klarstellung: Das ist kein Plädoyer gegen den Infrastrukturausbau. Auch keines gegen den Ausbau der Bahn. Im Gegenteil: Der Langstrecken-Güterverkehr gehört in einem vernünftigen Verkehrssystem ebenso auf die Bahn wie der Mittelstrecken-Personenverkehr. Die Distanzen zwischen den Ballungszentren sind dafür in Europa ideal.
Man muss aber sagen, was Sache ist: Infrastruktur ist klimafreundlich nicht zu schaffen, egal, ob auf Straße oder Schiene. Um die dabei entstehende Belastung zu rechtfertigen, müssen also gleichzeitig die Systeme im Hintergrund optimiert werden. Davon ist Europa im Bahnbereich Lichtjahre
entfernt. Statt mit ideologischen Versatzstücken a` la „Straße schlecht, Bahn gut“herumzuwerfen, würde es der Infrastrukturministerin nicht schlecht anstehen, auf europäischer Ebene stärker für ein wirklich europäisches Bahnsystem mit funktionierenden transeuropäischen Netzen zu lobbyieren. Das gehört nämlich auch zu ihren Aufgaben. Dann wären auch klimafeindliche Milliardeninvestitionen in Tunnel-Infrastruktur gerechtfertigt.
Das wäre ein rationaler Zugang. Rationalität ist aber etwas, das in der Klimadiskussion regelmäßig der Ideologie zum Opfer fällt. Ein schönes Beispiel liefert immer wieder die deutsche Energiewende. Dort werden ja Kernkraftwerke kurzfristig abgeschaltet. Und die Stilllegung des letzten Kohlekraftwerks soll auf 2030 vorgezogen werden.
Ist das ein Problem? Im Sommer nicht, denn die Sonne- und Windkapazitäten werden ja parallel stark ausgebaut. Und im Winter? Dazu hat der in Energiefragen
angesehene Thinktank Agora Energiewende ein interessantes Simulationsmodell („Agorameter“) entwickelt, das die Deckung des Strombedarfs anhand des erwarteten Ökostromzubaus und der prognostizierten Verbrauchszunahme auf Basis der derzeitigen Wetterdaten ermittelt.
Also: Wenn am 15. Dezember 2030 ähnliches Wetter wie am 15. Dezember 2021 herrscht, dann werden die Deutschen etwa um 16 Uhr rund 101 Gigawatt (GW) Leistung abrufen. Davon entfallen rund 38 GW auf Wind, PV und Biomasse. Sollte zu dem Zeitpunkt kein konventionelles Kraftwerk mehr in Betrieb sein, dann wird die sogenannte Residuallast bei 63 GW liegen. Das ist, in „plain german“, die Lücke zwischen Ökostromerzeugung und Bedarf.
Wie will man das decken? Kein Problem, sagen die Agora-Experten: durch Speicher, Importe, Lastflexibilität und mit grünem Wasserstoff betriebene Gaskraftwerke.
Ja, eh. Nur: 63 GW entsprechen ziemlich genau der Leistung aller französischen Kernkraftwerke. Ein bisschen Strom werden die Franzosen aber selbst auch brauchen. Und: Mit grünem Wasserstoff betriebene Gaskraftwerke sind großtechnisch Zukunftsmusik. Pumpspeicher (derzeit 9,4 GW installierte Leistung) sind nicht beliebig ausbaubar und Batteriespeicher sind, nicht nur aus Kostengründen, in diesem Maßstab wohl ebenfalls nur schöne Träume.
Der derzeit größte Batteriespeicher der Welt schafft 0,2 GW – und ist bei dieser Leistungsabgabe nach vier Stunden leer. Der derzeit größte deutsche Batteriespeicher leistet 0,05 GW – ziemlich genau eine Stunde lang.
Kann sein, dass diese Probleme bis 2030 keine mehr sind. Genauso gut könnte man freilich annehmen, dass bis dahin die AtomEndlagerproblematik gelöst ist. Kann aber auch sein, dass das in neun Jahren nicht machbar ist. Was dann? „Lastflexibilität“, also die vorübergehende Nichtbelieferung von Industrie, Gewerbe und Privathaushalten? In einer der führenden Industrienationen?
Da versucht Politik wieder einmal, über Physik zu triumphieren. Das funktioniert nicht. Wenn die Klimawende nicht im Fiasko enden soll, dann muss endlich Vernunft die Ideologie und ganzheitliches Denken politischen Aktivismus ablösen. Es ist wirklich ernst.