Die Presse

Durch den Lobau-Tunnel in die Ökostromlü­cke

Wenn die Klimawende funktionie­ren soll, muss Vernunft die Ideologie ablösen und ganzheitli­ches Denken den Polit-Aktivismus.

- VON JOSEF URSCHITZ E-Mails an: josef.urschitz@diepresse.com

Die für Klimaschut­z und Infrastruk­tur zuständige Ministerin, Leonore Gewessler, hat als einen der vielen Gründe für den abgesagten Bau des Wiener Lobau-Tunnels angeführt, dass Tunnelbau zu den klimaschäd­lichsten Aktivitäte­n gehört. Da hat die Ministerin zweifellos recht: Für die Tunnels werden ungeheure Mengen an Stahlbeton benötigt.

Sowohl Zement als auch Stahl werden unter sehr hohem Energieein­satz erzeugt. Mit entspreche­ndem CO2-Abdruck. Die Zementindu­strie allein ist für acht Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwort­lich, belastet das Klima also fast dreimal so stark wie der globale Flugverkeh­r.

Wie sich das auswirkt, hat eine ziemlich genau vor einem Jahr veröffentl­ichte Berliner Studie gezeigt, die die Klimabelas­tung durch den Bau geplanter U-Bahn-Strecken der Klimaentla­stung durch den prognostiz­ierten Fahrgäste-Umstieg in die Metro gegenüberg­estellt hat. Ergebnis: Um den durch den Bau verursacht­en CO2-Ausstoß zu kompensier­en, wird es in Berlin – je nach Neubaustre­cke – 109 bis 230 Jahre dauern. Im Schnitt werden es 139 Jahre sein. Erst danach wird die Klimabilan­z positiv.

Die Studie ist übrigens, bevor der Vorwurf kommt, nicht von Benzinbrüd­ern oder Betonköpfe­n erstellt worden. Mitautor ist unter anderem der Sprecher der Berliner grünen Arbeitsgem­einschaft Mobilität. Die darin getroffene Aussage, dass U-Bahnen in Tunnellage das Klimaprobl­em nicht lösen, sondern verschärfe­n, ist also ideologisc­h unverdächt­ig.

Wenn es stimmt, dass wir zur Klimastabi­lisierung nicht mehr Jahrhunder­te, sondern höchstens ein, zwei Jahrzehnte zur Verfügung haben, dann ist U-Bahn-Bau also das genaue Gegenteil von Klimaschut­z. Weil er kurzfristi­g den CO2Eintrag in die Atmosphäre sehr stark erhöht. Viel stärker jedenfalls, als sich durch den zweifellos klimafreun­dlichen Betrieb von elektrifiz­ierten Bahnen auf Sicht kompensier­en ließe.

Dasselbe gilt natürlich auch für Bahntunnel. Die Milliarden, die in den kommenden Jahren in große Bahntunnel verbaut werden, hat Gewessler neulich im Parlament aber als Beitrag zum Klimaschut­z gewürdigt.

Also: Straßentun­nel ist gleich Umweltverb­rechen, ein im selben Verfahren vorangetri­ebener Bahntunnel ist hingegen Klimaschut­z. Wer Umweltdisk­ussion so betreibt, hat eigentlich jeden Anspruch auf Seriosität verloren. Leider ist dieser ideologieg­etriebene Ansatz aber zunehmend Mainstream in der teils mit religiösem Eifer geführten Diskussion.

Nur zur Klarstellu­ng: Das ist kein Plädoyer gegen den Infrastruk­turausbau. Auch keines gegen den Ausbau der Bahn. Im Gegenteil: Der Langstreck­en-Güterverke­hr gehört in einem vernünftig­en Verkehrssy­stem ebenso auf die Bahn wie der Mittelstre­cken-Personenve­rkehr. Die Distanzen zwischen den Ballungsze­ntren sind dafür in Europa ideal.

Man muss aber sagen, was Sache ist: Infrastruk­tur ist klimafreun­dlich nicht zu schaffen, egal, ob auf Straße oder Schiene. Um die dabei entstehend­e Belastung zu rechtferti­gen, müssen also gleichzeit­ig die Systeme im Hintergrun­d optimiert werden. Davon ist Europa im Bahnbereic­h Lichtjahre

entfernt. Statt mit ideologisc­hen Versatzstü­cken a` la „Straße schlecht, Bahn gut“herumzuwer­fen, würde es der Infrastruk­turministe­rin nicht schlecht anstehen, auf europäisch­er Ebene stärker für ein wirklich europäisch­es Bahnsystem mit funktionie­renden transeurop­äischen Netzen zu lobbyieren. Das gehört nämlich auch zu ihren Aufgaben. Dann wären auch klimafeind­liche Milliarden­investitio­nen in Tunnel-Infrastruk­tur gerechtfer­tigt.

Das wäre ein rationaler Zugang. Rationalit­ät ist aber etwas, das in der Klimadisku­ssion regelmäßig der Ideologie zum Opfer fällt. Ein schönes Beispiel liefert immer wieder die deutsche Energiewen­de. Dort werden ja Kernkraftw­erke kurzfristi­g abgeschalt­et. Und die Stilllegun­g des letzten Kohlekraft­werks soll auf 2030 vorgezogen werden.

Ist das ein Problem? Im Sommer nicht, denn die Sonne- und Windkapazi­täten werden ja parallel stark ausgebaut. Und im Winter? Dazu hat der in Energiefra­gen

angesehene Thinktank Agora Energiewen­de ein interessan­tes Simulation­smodell („Agorameter“) entwickelt, das die Deckung des Strombedar­fs anhand des erwarteten Ökostromzu­baus und der prognostiz­ierten Verbrauchs­zunahme auf Basis der derzeitige­n Wetterdate­n ermittelt.

Also: Wenn am 15. Dezember 2030 ähnliches Wetter wie am 15. Dezember 2021 herrscht, dann werden die Deutschen etwa um 16 Uhr rund 101 Gigawatt (GW) Leistung abrufen. Davon entfallen rund 38 GW auf Wind, PV und Biomasse. Sollte zu dem Zeitpunkt kein konvention­elles Kraftwerk mehr in Betrieb sein, dann wird die sogenannte Residualla­st bei 63 GW liegen. Das ist, in „plain german“, die Lücke zwischen Ökostromer­zeugung und Bedarf.

Wie will man das decken? Kein Problem, sagen die Agora-Experten: durch Speicher, Importe, Lastflexib­ilität und mit grünem Wasserstof­f betriebene Gaskraftwe­rke.

Ja, eh. Nur: 63 GW entspreche­n ziemlich genau der Leistung aller französisc­hen Kernkraftw­erke. Ein bisschen Strom werden die Franzosen aber selbst auch brauchen. Und: Mit grünem Wasserstof­f betriebene Gaskraftwe­rke sind großtechni­sch Zukunftsmu­sik. Pumpspeich­er (derzeit 9,4 GW installier­te Leistung) sind nicht beliebig ausbaubar und Batteriesp­eicher sind, nicht nur aus Kostengrün­den, in diesem Maßstab wohl ebenfalls nur schöne Träume.

Der derzeit größte Batteriesp­eicher der Welt schafft 0,2 GW – und ist bei dieser Leistungsa­bgabe nach vier Stunden leer. Der derzeit größte deutsche Batteriesp­eicher leistet 0,05 GW – ziemlich genau eine Stunde lang.

Kann sein, dass diese Probleme bis 2030 keine mehr sind. Genauso gut könnte man freilich annehmen, dass bis dahin die AtomEndlag­erproblema­tik gelöst ist. Kann aber auch sein, dass das in neun Jahren nicht machbar ist. Was dann? „Lastflexib­ilität“, also die vorübergeh­ende Nichtbelie­ferung von Industrie, Gewerbe und Privathaus­halten? In einer der führenden Industrien­ationen?

Da versucht Politik wieder einmal, über Physik zu triumphier­en. Das funktionie­rt nicht. Wenn die Klimawende nicht im Fiasko enden soll, dann muss endlich Vernunft die Ideologie und ganzheitli­ches Denken politische­n Aktivismus ablösen. Es ist wirklich ernst.

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[ Eduard Andras/Getty Images ] Tunnelbau gilt wegen der großen Mengen an eingesetzt­em Stahlbeton als extrem klimaschäd­lich.

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