Können wir uns das Schenken nicht schenken?
Essay. Der Kaufrausch stresst, die Bescherung auch. Handeln wir selbstlos, wenn wir zu Weihnachten Gaben austauschen, oder schaffen wir dadurch nur subtile Abhängigkeiten? Ein Blick in die Geschichte des Schenkens macht einiges klarer.
Fluchen auch Sie, alle Jahre wieder, über den Stress der Weihnachtseinkäufe und ein kommerzialisiertes Fest? Versuchen wir, das Beste daraus zu denken: Es ist doch schön, seine Lieben zu beschenken, ganz selbstlos. Ich gebe die ausgrenzende Idee des Eigentums auf und entdecke mich als soziales Wesen. Das Wort „schenken“kommt vom „einschenken“, der Geste der Gastfreundschaft. Die Bescherung passt zum religiösen Ursprung: Christus als Geschenk Gottes an die Menschheit, Hirten und Könige, die sich schenkend bedanken.
Und überhaupt, die leuchtenden Kinderaugen! Na ja, außer ein Kind fühlt sich gegenüber seinen Geschwistern benachteiligt. Dann kommen Neid und Eifersucht hoch, es fließen Tränen. Für Kinder sind Geschenke eben noch ein Maßstab für ihre Anerkennung. Erwachsene haben schon eine Stellung in der Gesellschaft, eine Summe am Gehaltszettel. Um sich davon festtäglich zu lösen, halten sie beim Austausch von Gaben die ökonomische Wertsphäre strikt heraus.
Geldgeschenke sind in der bürgerlichen Gesellschaft Europas verpönt (nur die Großeltern dürfen). Preispickerln werden entfernt. Es gehört sich nicht, nach den Kosten für das Erhaltene zu fragen. Noch unpassender wäre nur, seiner Enttäuschung beim Auspacken offen Ausdruck zu verleihen. Aber gerade deshalb misstrauen wir als Schenker verbal versicherter Begeisterung und lauern auf unwillkürliche Variationen in Gestik, Mimik und Pupillenweite. Verdammt, es war das Falsche. Im Vergleich zum selbst Erhaltenen zu wenig oder zu viel. Das beschämt, das bedrängt. Wie gut haben sie es in Mexiko und Japan, wo man Geschenke diskret beiseitelegt und erst nach Abreise der edlen Spender öffnet! Wir hingegen haben schon wieder Stress. Aber warum?
Weil sich in der Gabe, anders als beim anonymen Güterhandel, Person und Sache mischen. Ich verschenke mich mit und erfahre den anderen, der mir etwas schenkt. Das macht alles so bedeutsam, so schwer. Wir verstehen Montaigne, der sich durch Geschenke „mit einer Dankesschuld belastet“sah: „Lieber nehme ich Dienste in Anspruch, die zu kaufen sind. Für diese gebe ich ja nur Geld, für jene aber mich selbst.“Die Mythologie warnt vor fatalen Folgen: Paris löste mit seinem Apfel für Aphrodite den Krieg um Troja aus, das Danaergeschenk des Holzpferdes machte der belagerten
Stadt den Garaus. Symbole dafür, dass die durch Präsente geschaffene Abhängigkeit Gift fürs Zusammenleben sein kann? Ach ja: „Gift“heißt das Geschenk auf Englisch, beides wird gegeben, hat denselben Stamm. Aber wir wollten doch positiv denken!
Rosen, Schauferl und Fischöl
Lindern wir die Ambivalenz durch einen Blick in die Geschichte. Schon Höhlenmänner schenkten ihrer präferierten Höhlenfrau akkurat gefertigte Werkzeuge, um sie von ihrer Tauglichkeit als Reproduktionspartner zu überzeugen und Konkurrenten auszustechen. Selbstlos war das nicht, was irritiert, weil wir heute glauben, das Schenken unter Liebespartnern käme dem Ideal am nächsten (sieht man davon ab, dass es instantane Liebeshandlungen anregt: „Willst du kosen, schenke Rosen“). Aber als die Urgeschichte voranschritt, passierte etwas Nettes: Stämme erkannten, dass Geschenke an Nachbarn
Spannungen abbauen, Frieden bewahren und Allianzen begründen. So wie es Kinder in der Sandkiste lernen: Wenn man dem aggressiven Buben das Schauferl gibt, kehrt Ruhe ein, und die disparate Gruppe formt sich zur produktiven Zweckgemeinschaft.
Aus den Ritualen der „Schenkökonomie“erwuchs ein „Gesellschaftsvertrag der Urvölker“, vermutete der französische Soziologe Marcel Mauss 1923. Man schenkte im Vertrauen darauf, dass sich die anderen revanchieren würden, irgendwie und irgendwann, so wie es unter Freunden üblich ist. Aber Mauss war nicht so naiv wie viele seiner Jünger, die darin bis heute die rettende Alternative zum kalten Gewinnstreben sehen. Er kannte auch die Häuptlinge der Indigenen, die den Umfang von Gabe und Gegengabe so weit hinauftrieben, bis sie ruiniert waren. Oder die Ureinwohner an Amerikas Nordwestküste mit ihren „Potlatch“-Festen, einem irrwitzigen Wettstreit um Großzügigkeit und
Verschwendung. Da wurden so lang Boote zerschlagen, Fischöl verschüttet und Pelze verbrannt, bis nur noch einer der Gastgeber etwas hatte. Auch so kann man anderen durch Schenken einschenken. Nehmt das!
Weniger exzessiv, aber umso verbindlicher festigten Geschenke die Machtgefüge im europäischen Mittelalter. Bis sich im Frankreich des 16. Jahrhunderts alle nur noch den Kopf zerbrachen, wann sie wem was zu schenken hatten. Und Philosoph Montaigne von einem Leben träumte, das auf „Recht und Gesetzesmacht“gründet, „nicht auf Erkenntlichkeit und Huld“. Unsere Gesellschaft macht es möglich, durch Demokratie, Kapitalismus und Wohlstand. Jedes Gut hat nun seinen fixen Preis. Die meisten können sich selbst leisten, was sie zum Leben brauchen. Gerade das verschafft Freiräume für selbstloses Schenken – über anonyme Spenden, aber auch unterm Christbaum. Und wehe, es gefällt euch nicht!