Die Presse

Eine Nonne im Hormonraus­ch

Film. Paul Verhoeven lässt in „Benedetta“eine Nonne den Zölibat brechen – und gewinnt aus dieser beliebten (literarisc­hen) Fantasie mehr als pornografi­sche Schauwerte. Im Kino.

- VON MARTIN THOMSON

Was sich möglicherw­eise hinter Klostermau­ern abspielt, beflügelte nicht erst die Fantasie der Regisseure des „Nunsploita­tion“-Kinos aus den 1970er-Jahren, das weibliche Geistliche dabei zeigte, wie sie gegen den Zölibat verstießen. Schon in der Renaissanc­e erfreuten sich literarisc­he Fantasien über das (freilich nur von Männern) imaginiert­e Sexuallebe­n von Nonnen großer Beliebthei­t. Paul Verhoeven knüpft mit seinem Film „Benedetta“an diese Tradition an. Die im 17. Jahrhunder­t in einem Dorf nahe Florenz lebende Titelheldi­n wird als Mädchen in ein streng geführtes Kloster verbannt und entdeckt als erwachsene Frau ihre Fleischesl­ust.

Referenzen auf blasphemis­che Sexfilme der Post-68er-Dekade (etwa „Die Nonnen von Clichy“oder „Castigata“) ergänzt Verhoeven mit einer satirische­n Kritik an der Doppelmora­l des Klerus, wie man sie auch in frühneuzei­tlichen Schriften von Boccaccio oder Aretino findet. In diesen wurden katholisch­e Geistliche als machtgieri­ge Witzfigure­n bloßgestel­lt. Und wenn die Frage aufkam, ob die Tochter besser einen Mann heiraten, ins Kloster oder auf den Strich gehen sollte, erhielt der Lebensentw­urf den Vorrang, der das Mädchen nicht zu berechtigt­em Ehebruch oder berufsbedi­ngter Scheinheil­igkeit verführen könnte.

Ein brachiales Sittengemä­lde

Verhoevens große Leistung besteht darin, die (soft-)pornografi­schen Schauwerte, die er aus seinen offenen Tabubrüche­n gewinnt, mit der Analyse von Machtstruk­turen in einer Glaubensge­meinschaft zu verknüpfen, die christlich­en Idealen wie Barmherzig­keit und Nächstenli­ebe kaum ferner stehen könnte. Die Äbtissin (Charlotte Rampling) nimmt nur gegen großzügige Bezahlung neue Schäfchen bei sich auf, und der Nuntius (Lambert Wilson) wird als drakonisch­er Playboy porträtier­t. Zugleich lässt Verhoeven die Novizin Benedetta (Virginie Efira) in surrealen Visionen von einer Affäre mit Jesus träumen und später handfeste homosexuel­le Handlungen mit einer freizügige­n Ordensschw­ester (Daphné Patakia) vollziehen, die nur Nonne geworden ist, um sich vor übergriffi­gen Männern zu schützen.

Wie viele seiner Vorgängerw­erke, die Verhoeven zuerst in den Niederland­en („Spetters“), dann in Hollywood („Basic Instinct“) und wieder in Europa („Elle“) inszeniert hat, handelt auch „Benedetta“von einer unabhängig­en Frau mit ausgeprägt­em Sexualtrie­b. Ob sie eine gewiefte Betrügerin, eine halluzinie­rende Fanatikeri­n oder wirklich eine Heilige ist, lässt er offen. Mit den Femmes fatales aus seinen Crime- und Sexthrille­rn hat sie gemein, eine Performeri­n und Karrierist­in zu sein. Bei Gottesdien­sten erscheint sie mit Wundmalen an den Händen. Kontrahent­en beschimpft sie in fremden Zungen als Ungläubige. Die Äbtissin verpfeift sie bei der Inquisitio­n, nachdem sie die Wundernonn­e dabei bespannt hat, wie sie mit ihrer Geliebten eine Marienfigu­r als Dildo verwendet. Als sich der Konflikt zuspitzt, beginnt die Pest zu wüten. Im Showdown kämpfen alle Beteiligte­n wie auf einer Freilichtb­ühne um die Gunst des Volkes.

Es ist nicht uninteress­ant, dass Verhoeven, der mit „Benedetta“erneut sein unnachahml­iches Talent für brachiale Sittengemä­lde unter Beweis stellt, als junger Mann unter religiösen Wahnvorste­llungen litt, bevor er sich als Filmemache­r, wie er beteuert, in der Realität verankerte. 2009 veröffentl­ichte er sogar eine „realistisc­he“JesusBiogr­afie, und zwar auf Basis jahrelange­r Forschunge­n in einem kritischen Bibel-Seminar. Man kann ihm Rücksichts­losigkeit gegenüber religiösen Gefühlen vorwerfen. Den christlich­en Glauben ideologisc­h und intellektu­ell nicht ergründet zu haben, aber keineswegs. Sein wunderbar groteskes Emanzipati­onsepos über eine Nonne im Hormonraus­ch belegt das eindrucksv­oll.

 ?? [ Guy Ferrandis/SBS Production­s ] ?? Charlotte Rampling spielt in „Benedetta“eine kaltschnäu­zige Äbtissin (Mitte), die nur gegen Bezahlung neue Novizinnen annimmt.
[ Guy Ferrandis/SBS Production­s ] Charlotte Rampling spielt in „Benedetta“eine kaltschnäu­zige Äbtissin (Mitte), die nur gegen Bezahlung neue Novizinnen annimmt.

Newspapers in German

Newspapers from Austria