Kurz muss weg, auch wenn Kurz weg ist
Nachtreten gehört zum unguten politischen Brauchtum des Landes – Sebastian Kurz der Scharlatanerie zu zeihen ist trotzdem etwas ahistorisch.
Unter dem Titel „Abschied von Sebastian Kurz“verfasste dieser Tage Kollege Hans Rauscher eine Art Nachruf auf den politisch (vorerst) von uns gegangenen 35-jährigen DoppelAltkanzler, dessen entscheidende Passage lautete: „Jetzt geht es darum, wie wir weitertun, wie wir aus der türkisen Scharlatanerie der letzten vier Jahre und aus der ansatzweisen Radikalisierung wegen Corona wieder herauskommen“(„Der Standard“, 11. 12. 2021).
Nun ist die ansatzweise Radikalisierung, die jeden Samstag in der Wiener Innenstadt oder gar vor Krankenhäusern zu besichtigen ist, wohl eher der Dummheit mancher Mitbürger und einem politischen Laufhausbetreiber namens FPÖ geschuldet, der mit seinen Schwurbler-Demos eine Art Triebabfuhr für jene Unvernünftigen geschaffen hat, für die sie sich mit einem politischen Schandlohn in Form von Wählerstimmen bezahlen lässt. Herbert Kickls Corona-Puff sozusagen, wer einen IQ unter 100 nachweisen kann, zahlt nur die Hälfte.
Kurz freilich kann man dafür nur dann verantwortlich machen, wenn man, wie viele Anhänger der „Kurz muss weg“Liga, die Auffassung vertritt, dass Kurz grundsätzlich für jedes nur denkbare Übel dieser Welt verantwortlich ist.
Was aber ist dran an der nicht nur von Hans Rauscher verbreiteten Erzählung von der „türkisen Scharlatanerie“der Kanzlerjahre des Sebastian Kurz – einmal abseits jener unbewiesenen Vorwürfe, die von der Justiz zu klären sind? Scharlatan, so lehrt uns das etymologische Lexikon, ist, „wer nichts von seinem Fach versteht, aber vorgibt, viel zu wissen, Aufschneider, Schwindler, Hochstapler also“. Ich bin mir nicht sicher, ob das eine treffliche Charakteristik für Sebastian Kurz ist. Dass er nichts von seinem Fach, der Politik, versteht, ist Nonsens; und wenn der Mann ein „Schwindler oder Hochstapler“ist, dann wäre das ein erheblicher Teil der politischen Klasse ebenso. Zutreffend ist, dass Kurz vor allem in der Coronakrise zu früh Entwarnung gegeben hat und die eine oder andere Entscheidung eher politisch denn medizinisch motiviert getroffen hat. Man kann das kritisieren – aber „Scharlatanerie“? Geht’s nicht um eine Konfektionsgröße kleiner?
Für mich gehört zu den enttäuschenden Aspekten der Ära Kurz die weitgehende Abstinenz im Einschlagen der richtigen wirtschaftspolitischen Pflöcke, wie das seinerzeit Wolfgang Schüssel unternommen hat, etwa durch die Privatisierung der Verstaatlichten Industrie, allen voran der Voest. Sebastian Kurz hat nicht einmal annähernd vergleichbares vorzuweisen, aus wirtschaftsliberaler Sicht war da kaum was, das Bestand haben wird. Verlorene Jahre in dieser Hinsicht, und dieser Vorwurf wiegt schwer genug – aber „Scharlatanerie“ist das deswegen doch nicht; wie man das eigentlich keinem Kanzler der II. Republik seriöser weise zuschreiben kann.
Schon gar nicht als Scharlatenerie kann diskreditiert werden, was Kurz in anderen Politikbereichen an Markierungen hinterlassen hat. Dazu gehört das Vorantreiben der Agenda der „Frugalen Vier“, also der Versuch, den weiteren Umbau der EU zur Schuldenunion zu bremsen und den Tugenden der (staatlichen) Sparsamkeit wieder Gehör zu verschaffen. Auch sein harter Kurs in der Frage der illegalen Einwanderung und ihrer Bekämpfung („Festung Europa“), sein Widerstand gegen den UN-Migrationspakt und die sogenannte Aufteilung der Migranten gegen den Willen einzelner Mitgliedstaaten waren nicht Scharlatanerie, sondern notwendige Realpolitik. Die übrigens, wie in der jüngsten Causa „Migranten als Waffe gegen Polen“zu besichtigen war, langsam mehrheitsfähig wird in Europa.
Herbert Kickls Corona-Puff sozusagen – wer einen IQ unter 100 nachweisen kann, zahlt nur die Hälfte.
Auch sonst liegt die „Scharlatanerie“wohl im Auge des Betrachters. Israelis zum Beispiel werden den betont mit dem Judenstaat solidarischen Kurs der Kurz-Regierung als Wohltat empfinden. Dass ausgerechnet jemand wie Hans Rauscher das aus seinen diesbezüglichen Reflexionen ausklammert, erstaunt. Aber ich weiß: „Kurz muss weg, Kurz muss weg, Kurz muss weg, Kurz . . .“